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Was Kopferschütterungen auslösen können

24.01.2019

Mikroblutungen, zerstörte Nervenverbindungen, beeinträchtigte Hirnfunktion: Die Medizinerin Inga Koerte untersucht mit modernsten bildgebenden Verfahren, was bei Kopferschütterungen, wie sie auch beim Kopfballspiel vorkommen, i...

Drei Personen spielen Fußball.

© auremar/Adobe Stock

Was passiert bei einer Gehirnerschütterung aus medizinischer Sicht? Koerte: Bei einer Gehirnerschütterung gerät das Gehirn, das im knöchernen Schädel in einer Flüssigkeit schwimmt, in Bewegung. Dabei wird es gedehnt und komprimiert. Dadurch kann es zu kleinsten Verletzungen des Gehirngewebes kommen. Denn das Gehirn ist viel weicher, als man sich das vielleicht vorstellt. Es hat eine gallertartige Konsistenz, ähnlich wie Wackelpudding. Die Gehirnerschütterung ist eine klinische Diagnose, die auf Basis der Symptome gefällt wird, von denen der Patient berichtet, wie Erbrechen, Kopfschmerzen, Schwindel. In aller Regel verschwinden diese Symptome wieder vollständig und das Gehirn erholt sich komplett. Bei bis zu 30 Prozent der Betroffenen aber nicht, man nennt sie daher die „miserable minority“. Sie können über Monate oder Jahre Symptome wie Kopfschmerzen, Konzentrations- und Schlafstörungen, depressive Verstimmungen haben.

Was sind das für kleinste Verletzungen, die eine Kopferschütterung im Gehirn auslöst? Nach einer Kopferschütterung sind zum Beispiel die Verbindungen der Nervenzellen so sehr gedehnt, dass sie nicht mehr richtig funktionieren. Auch die Aktivität der Nervenzellen, der Neurone, ist gestört, manche gehen gar kaputt. Dazu kommen feinste Blutungen im Gehirngewebe. Durch die Erschütterung werden die Gefäße gedehnt, dabei treten rote Blutkörperchen aus und lagern sich im Gewebe ab. Wir haben 2015 in einer Studie mit der Magnetresonanztomographie (MRT) gezeigt, dass diese Mikroblutungen in den ersten 72 Stunden nach einer Gehirnerschütterung zu- und im Laufe der nächsten zwei Monate wieder abnehmen. Das Gehirn ist also in der Lage, diese roten Blutkörperchen zu entsorgen.

Lässt sich erkennen, was in den Gehirnen der „miserable minority” anders ist? Wir wissen noch nicht, was Patienten, denen es später schlecht geht, von jenen unterscheidet, die sich komplett erholen. Schädel-Hirn-Traumata werden seit Jahrzehnten anhand des Zustands des Patienten direkt nach Trauma in leicht, mittel und schwer eingeteilt. Diese Einteilung ist klinisch wichtig, weil man so akut entscheiden kann, ob etwa der Neurochirurg dazugerufen werden muss. Aber anhand der akuten klinischen Symptome lässt sich nicht sicher voraussagen, ob jemand chronische Symptome entwickeln wird. Unser Ziel ist es, diese alte Kategorisierung aufzubrechen und den Blick auf den einzelnen Patienten zu lenken. Das Gehirn ist der Sitz des Individuellen – warum sollte man so tun, als wären alle gleich? Wir analysieren etwa, ob und wie die Neurosteroide, im Gehirn wirksame Hormone, die unter anderem eine neuroprotektive Funktion haben, nach Gehirnerschütterung bei Einzelnen ansteigen und wie sich Stoffwechsel und Mikrostruktur über die Zeit verändern. Wir wollen vorhersagen können, welcher Patient sich unter welchen Voraussetzungen völlig erholen wird und wer von einer gezielten Therapie profitiert.

Wie ist das bei Kindern? Erholt sich ihr Gehirn besonders schnell? Das kindliche Gehirn ist erstaunlich, es entwickelt sich ständig weiter. Aber wir gehen inzwischen davon aus, dass es vermutlich anfälliger gegenüber den Langzeitfolgen von Gehirnerschütterungen ist. Das ist vor allem in einem Alter der Fall, in dem sich der Hormonstatus stark verändert – bei Jungen zum Beispiel in der Präpubertät zwischen zehn und 13. Ein gutes Modell, um die Folgen von wiederholten leichtgradigen Kopferschütterungen zu untersuchen, ist Fußball. Ich betreue gerade eine Europäische Studie mit jugendlichen Fußballspielern. Sie haben keine Gehirnerschütterung, sind aber durchs Kopfballspielen exponiert gegenüber Kopferschütterungen. Erste Auswertungen zeigen einen Zusammenhang zwischen der Veränderung des Gehirns und der Länge und Intensität der Exposition gegenüber wiederholter Kopferschütterung. Basierend auf unseren Studien zu American-Football-Spielern in den Vereinigten Staaten sieht es übrigens so aus, als ob weniger die einmalige Gehirnerschütterung das Problem ist, als vielmehr die wiederholten leichtgradigen Erschütterungen des Kopfes über einen längeren Zeitraum hinweg.

Sollte man Kinder bis zu einem bestimmten Alter also besser keine Kontaktsportart machen oder Kopfbälle spielen lassen? In den USA hat eine Initiative besorgter Eltern die Fußballorganisation verklagt, um genau das zu erreichen. Daraufhin wurden freiwillig vom Amerikanischen Fußballverband Kopfbälle für unter Zehnjährige verboten. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es allerdings keinen Anhaltspunkt dafür, gerade dieses Alter zu nehmen. Es ist eine willkürlich gewählte Grenze. Was ich besonders schwierig finde, ist, dass sie impliziert, dass es ab elf Jahren völlig in Ordnung wäre, Kopfbälle zu spielen. Alles, was wir aus den Studien mit Jugendlichen zwischen zehn und achtzehn wissen, bestätigt, dass die Pubertät eine besonders empfindsame Phase der Gehirnentwicklung ist.

Was könnte man Eltern dann sagen? Sport ist gesund und hilft der Gehirnentwicklung. In einer Mannschaft zu spielen, fördert auch soziale Kompetenzen. Was wir aber aufgrund der Studien der letzten Jahre erahnen, ist, dass Kopfballspielen möglicherweise nicht gesund ist. Wir haben 2017 eine Studie veröffentlicht, für die wir eine Gruppe junger Fußballspieler untersucht und diese mit Tischtennisspielern und Schwimmern verglichen haben – alles gesunde Jugendliche, keiner hatte je eine Gehirnerschütterung. Sie mussten zwei Tests machen: einen einfachen zur Reaktionsgeschwindigkeit und einen etwas komplexeren, der höhere kognitive Leistungen er-fasste. Untersucht wurde immer vor und nach dem Training. Nach dem Training schnitten alle Jugendlichen jedes Mal besser ab. Ausdauersport ist also gesund fürs Gehirn. Über einen längeren Zeitraum wurden die Tischtennisspieler und die Schwimmer in beiden Tests auch immer besser – was man von einem 15-Jährigen auch erwarten würde, der ja lernt und sich weiterentwickelt. Die Fußballer dagegen konnten ihre Testergebnisse über die Zeit nicht maßgeblich verbessern. Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, dass sie ihr kognitives Potenzial nicht vollständig ausschöpfen können.

Gibt es auch Unterschiede zwischen Männern und Frauen? Frauen haben nach einer Gehirnerschütterung ein höheres Risiko, schlechter beieinander zu sein und auch länger zu brauchen, um sich zu erholen. Dies gilt insbesondere, wenn die Gehirnerschütterung in der zweiten Zyklushälfte passiert, während der die Hormonveränderungen deutlicher ausgeprägt sind als in der ersten. In einer aktuellen Studie konnten wir zeigen, dass nach wiederholten Kopferschütterungen bei Frauen auch mehr Veränderungen im Gehirn nachweisbar sind. Neben hormonellen Unterschieden spielen sicherlich noch viele andere Faktoren eine Rolle, wie zum Beispiel genetische Unterschiede und Unterschiede im Verletzungsmuster.

Gibt es auch andere Bereiche als Fußball, in denen Kopferschütterungen häufig sind? Das häufigste in der westlichen Welt sind Kontaktsportarten, vor allem bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Betroffen sind aber auch andere Gruppen, darunter Soldaten. Bei ihnen gibt es zum einen die Erschütterungen durch Explosionen, aber auch durch den Rückschlag beim Abfeuern von automatischen Waffen. Ein schwieriger zu fassendes Patientenkollektiv mit einer hohen Dunkelziffer sind Menschen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Man kann diese verschiedenen Patientengruppen sicherlich nicht in einen Topf werfen. Aber es gibt Faktoren, die zurzeit bei allen Gruppen untersucht werden, zum Beispiel die Frage der Dosis. Das Gehirn ist ein erstaunliches Organ, das mit sehr vielem zurechtkommt. Aber man muss davon ausgehen, dass es einen kumulativen Effekt von Kopferschütterungen gibt, und das gilt wahrscheinlich vor allem für das kindliche Gehirn.

Prof. Dr. med. Inga Koerte ist Professorin für neurobiologische Forschung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Fakultät der LMU und Leiterin der Arbeitsgruppe cBRAIN. Zugleich ist sie Lecturer an der Harvard Medical School in Boston, USA.

Das Interview mit Professor Inga Koerte stammt aus der neuen Ausgabe des LMU-Forschungsmagazins Einsichten .

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