Hitzige Debatten: Pamphlet und Protest

Der Amerikanist Pierre-Héli Monot zeichnet die gemeinsame Geschichte von Flugschriften und sozialen Bewegungen nach. Und untersucht, wie heute die Polemik im Netz explodiert.

Funkenflug

Welche spezifischen Ausdrucksformen findet gesellschaftlicher Protest? Und wie befördern solche zugespitzten Äußerungen wiederum die sozialen Bewegungen? Das untersucht Pierre-Héli Monot. Pamphlete können politische Positionen prägnant verdichten, die in der Gesellschaft präsent sind, sagt der Amerikanist. Aber die Basis des Protests müsse schon gelegt sein, damit sie die Öffentlichkeit animieren können.

© Silas Stein / Picture Alliance / dpa

Zusammen mit Ihrem Team haben Sie eine Reihe von Pamphleten kommentiert und ediert. Das erste ist das berühmte J’Accuse ...! von Émile Zola. Das zweite sind die Twitter-Posts, mit denen der Fußballer Mesut Özil seinen Rücktritt von der deutschen Nationalmannschaft öffentlich begründete. Zeigt das in etwa die Spannbreite dessen auf, was sie unter Pamphleten verstehen?

Pierre-Héli Monot: Wir fassen den Begriff heute in der Tat sehr weit. Nach der klassischen Definition ist das Pamphlet eine kurze Flugschrift, die weit durch die Gesellschaft zirkuliert und Forderungen aufstellt. Diese Definition war immer gekoppelt an bestimmte Infrastrukturen, allem voran an den Buchdruck und an polizeiliche Überwachungsapparate. Die Formen der Vervielfältigung und der Zirkulation, die der Buchdruck ermöglichte, haben maßgeblich geprägt, auf welche Weise ein Pamphlet wie im Falle Zolas funktioniert. Heute dagegen ist die mediale Infrastruktur weitgehend transformiert, politische Polemik findet wie bei den Özil-Tweets oft online statt.

»Pamphletistik und Polemik sprengen oft den Rahmen der geduldeten Sprache. Das gehört zur Logik eines politischen Kampfes, der hier literarisch geführt wird.«

Pierre-Héli Monot

Best-Practice-Beispiel für das klassische Pamphlet: „J'accuse ...!“ von Émile Zola | © akg-images / Picture Alliance

J’Accuse ...! gilt ja als historisches Best-Practice-Beispiel eines klassischen Pamphletes. Worum geht es da und was ist der geschichtliche Kontext im Frankreich des Jahres 1898?

Monot: Gegenstand von Zolas Intervention ist die sogenannte Dreyfus-Affäre, ein Justiz-Skandal, in dem sich die Verfasstheit der Dritten Republik spiegelt. Alfred Dreyfus, Offizier der französischen Armee, saß seit schon mehreren Jahren wegen angeblicher Spionage für Deutschland ein. Seine Unschuld wurde zunehmend offenkundig, ebenso, dass bei der Strafverfolgung und Verurteilung antisemitische Motive eine wesentliche Rolle gespielt hatten. Zola war auf der Höhe seines Ruhmes als Schriftsteller, als er für Dreyfus Partei ergriff und sich einer wachsenden Gruppe von Politikern, Künstlern, Journalisten und Autoren anschloss. Für diese Schriftsteller und Akademiker, die öffentlich für maximalistische Werte wie Wahrheit, Fortschritt und Gerechtigkeit eintraten, kam der Begriff des ,IntelIektuellen‘ in Mode, als Selbstzuschreibung und als abwertender Kampfbegriff.

Aber was machte Zolas Anklage so wirksam?

In J’Accuse ...! ist Zola ein großer Innovator. Er zeichnet nicht nur ein Bild dysfunktionaler Strukturen und Institutionen, sondern greift auch namentlich diejenigen an, die für den Skandal Verantwortung trugen. Und stellt Staat und Justizapparat bloß, indem er auch gleich noch minutiös aufzählt, welcher Vergehen er sich mit J’Accuse ...! schuldig macht. Vor allem diese Diktion hat den Text wohl zu einem so effizienten, effektiven Pamphlet gemacht – im Unterschied zu anderen, die Zola zuvor zu diesem Fall geschrieben hatte. Man kann sagen, dass er mit J’Accuse ...! die öffentliche Meinung drehte.

Wie ging es dann weiter?

Das ist eine sehr lange komplizierte Geschichte, in der Zola selbst auch verurteilt wurde. Dreyfus wurde nach einer erneuten Verurteilung begnadigt, aber erst 1906 rehabilitiert.

Links oder rechts? „Viele Pamphlete sind politisch nicht so einfach zurechenbar, wenn sie diskursive Standards überreizen oder negieren“, sagt Pierre Héli Monot

© Stephan Höck / LMU

Ein Flair von Spontanität und Affekt

Die Özil-Tweets gehorchen anderen Gesetzmäßigkeiten …

Mesut Özil wendet sich mit seiner ausführlichen Erklärung über Social Media direkt an die Öffentlichkeit. Es ist ein Beispiel dafür, wie sich für Texte, die klassisch pamphletistisch, also als Anklage verfasst sind, die digitalen Plattformen nutzen lassen.

Die Botschaft auf Twitter hatte ja dieses Flair von Spontanem, Vorläufigem, aus dem Affekt heraus Gepostetem. War sie nicht aber minutiös vorbereitet?

Die genaue Entstehungsgeschichte des Textes kennen wir nicht, in jedem Fall aber ist der Text in Absprache mit Özils Beratern entstanden. Pamphletistik und Polemik sprengen oft den Rahmen der geduldeten Sprache. Das gehört zur Logik eines politischen Kampfes, der hier literarisch geführt wird. Özil indes hat sich genau überlegt, wie weit er zu weit geht, und sich mit einem formal sachlich gehaltenen Text gezielt positioniert.

Stoff für den Eklat

Kurz vor der WM 2018 ließ sich Nationalspieler Mesut Özil - im Übrigen zusammen mit Ilkya Gündogan, ebenfalls im deutschen Kader - zusammen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan fotografieren.

© AP / Picture Alliance

Er spitzt sich ja im Vorwurf Özils zu, dass ihm beim Führungspersonal des DFB und Teilen der deutschen Öffentlichkeit ein latenter Rassismus entgegenschlage. Er sei „Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren“, heißt es in dem Text. Dem war vorausgegangen, dass er sich zusammen mit dem türkischen Staatschef Erdogan hatte ablichten lassen, dessen Partei die Fotos im Wahlkampf twitterte. In Deutschland brach eine heftige Debatte los.

Mein Kollege David Bebnowski, der als Postdoc im Projekt arbeitet, schrieb zu seiner Dokumentation des Özil-Textes, dass gerade dieser Satz einen Nerv getroffen hat, in einem Deutschland, in dem Debatten über Einwanderung und den Status als Einwanderungsland alltäglich geworden sind. Und in diesem Zusammenhang war Mesut Özil geradezu als Role Model für den Erfolg einer immer stärker multikulturellen Gesellschaft gehandelt worden. Gleichzeitig war die Debatte um sein Beharren auf seine zweistaatliche Identität nie verebbt. Das macht sein Kündigungsschreiben, in dem er neben dem DFB vor allem auch Teile der Medien angriff, in dieser spezifischen Form zum Pamphlet. Die Aufteilung in drei sich inhaltlich steigernde Posts und überhaupt die Wahl des Kanals zeigen das Werk von Medienprofis. Özil hatte zu diesem Zeitpunkt 23 Millionen Follower auf Twitter.

»Ohne Namen zu nennen und jemanden konkret anzugehen, kommt heute kein Pamphletist mehr aus. Es gibt einen Drang nach Personalisierung, der seit Zola in die Form selbst eingeschrieben ist.«

Pierre-Héli Monot

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Wenn man das Verhältnis von Pamphlet und sozialer Bewegung als Frage von Henne und Ei betrachtet: Kann ein Pamphlet eine Bewegung quasi aus dem Stand initiieren? Oder braucht es immer eingeführte Erzählungen, um anschlussfähig zu sein?

Ich glaube kaum, dass es ein Pamphlet gibt, das ex nihilo, ohne eine bereits gelegte soziale Basis des Protests, die Öffentlichkeit animieren konnte. Ein Pamphlet schafft es bestenfalls, eine besonders prägnante Form zu finden und Positionen zu verdichten, die ohnehin in der Gesellschaft präsent sind. Das mindert aber nicht ihren Wert für den politischen Diskurs.

Was aber macht Pamphlete dann wirkmächtig, dass sie ein breiteres Publikum erreichen können?

Im Allgemeinen sind Pamphletisten gut beraten, wenn sie die Grenzen der allgemeinen Mäßigung überschreiten, die Grenzen des Zulässigen, des Plausiblen und Legitimen. Und ohne Namen zu nennen und jemanden konkret anzugehen, kommt heute kein Pamphletist mehr aus. Es gibt einen Drang nach Personalisierung, der seit Zola in die Form selbst eingeschrieben ist. Was die Zielsetzung angeht, kann aber auch das Gegenteil von Zuspitzung den Erfolg ausmachen. Manche Pamphlete setzen auf einen kleinen gemeinsamen Nenner und vergrößern so die aktivierbare Öffentlichkeit. Vielleicht also gibt es in der radikalen Literatur so gesehen auch eine verborgene Tendenz zu Entradikalisierung oder Entspezifizierung.

Einfluss auf die UN-Deklaration

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Aus dem American Indian Movement ist in den 1970er-Jahren das kollektiv verfasste 20-Punkte-Papier The Trail of Broken Treaties hervorgegangen, das territoriale Souveränität, Bürgerrechte, faire Gerichtsverfahren und Zugang zu natürlichen und wirtschaftlichen Ressourcen einfordert. In der Folge wurde dieses Pamphlet zur Blaupause für viele weitere ähnlichen Inhalts – und ging auch zentral in die UN Declaration on the Rights of Indigenious Peoples ein. Damit entfaltete es seine Wirkung nicht nur für Native Americans, sondern auch für andere Indigene Völker weltweit. Womöglich mehr als jeder andere polemische Text im 20. Jahrhundert zeigt er, welche Rolle Pamphlete für soziale Bewegungen, aber auch für die Politik in ihrer institutionellen Form haben können.

Sozialer Protest und das gute Recht, seine Meinung frei zu äußern. Demonstrantin, New York, Mai 2025

© Madison Swart / Hans Lucas / Picture Alliance

Sind Pamphlet und Polemik heute Sache der politischen Ränder? Und gibt es Unterschiede zwischen linkem und rechtem Pamphletieren?

Auch darauf gibt es keine pauschale Antwort, schon deswegen nicht, weil viele Pamphlete politisch nicht so einfach zurechenbar sind, wenn sie diskursive Standards überreizen oder negieren. Es gibt natürlich einen Überschuss an linken politischen Pamphleten. Aber ich glaube, dass die Strategie ,Flood the zone with shit‘, also die Öffentlichkeit mit Müll zu überfluten, wie sie Steve Bannon, der ehemalige Medienberater von Donald Trump, ausgerufen hat, ein makabrer Vorstoß ist, rechtsextreme Polemik zu erneuern. Dabei kommt es gar nicht mehr so sehr auf die Qualität oder Virulenz eines einzelnen Statements an, sondern es geht um die schiere Menge an Polemik, an Verfälschung, an Unterstellungen.

Überhaupt scheint das Erregungslevel immer höher zu sein.

Wir haben heute, egal ob auf sozialen Plattformen oder in der politischen Kommunikation, einen Überschuss an Polemik. Das ist an sich kein Problem, und Menschen haben in vielen Regionen dieser Welt das gute Recht, ihre Meinung frei zu äußern. Anlass zur Klage und Anklage scheint es ohnehin genug zu geben. Doch die Logik der Polemisierung ist auch den medialen Infrastrukturen selbst eingeschrieben. Plattformlogiken erzwingen, dass Akteure schon sehr laut sein müssen, wenn sie durchdringen wollen. Kein Wunder also, dass politische Kommunikation nicht mehr ohne Polemik und Skandal auskommt. Darüber hinaus liegt in der Logik der Plattformen eine Tendenz zur Assoziation. So kann auch ein isolierter Text eine weit größere Öffentlichkeit erreichen, ein Publikum, das er ursprünglich nicht adressiert hat.

»Doch die Logik der Polemisierung ist auch den medialen Infrastrukturen selbst eingeschrieben. Plattformlogiken erzwingen, dass Akteure schon sehr laut sein müssen, wenn sie durchdringen wollen.«

Pierre-Héli Monot

Ließ sich eine solch rasante Entwicklung absehen?

Ich habe den Antrag für das Projekt „The Arts of Autonomy“ 2018 geschrieben, mitten in der Zeit der ersten Präsidentschaft Trumps. Damals wollte ich das Pamphlet als eine weitverbreitete literarische Form im politischen Modernisierungsprozess seit der Reformationszeit unter die Lupe nehmen. Alle literarischen Kulturen haben ein polemisches Archiv, sehr viele kanonische Autoren haben auf Polemik zurückgegriffen an einem bestimmten Punkt ihrer Karriere. Aber es gibt keine globale Anthologie der polemischen Literatur. Und es gibt auch keine gegenwärtige Gesellschaftstheorie dazu, wie sich politischer Prozess und radikale literarische Kritik genau verschränken. Doch es hat sich schnell gezeigt, dass im Laufe der letzten Jahre dieser Stil, dieser Tonfall, auch die radikale Personalisierung der Anklage allgegenwärtig geworden sind. In gewisser Weise haben uns da die Gegenwart und die Transformation der medialen Infrastrukturen überholt. Was aber unsere grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis von Pamphlet, Polemik, Politik und Protest nur noch interessanter macht.

Auch Verrücktheiten und Obszönitäten

Lässt einen diese mittlerweile allgegenwärtige radikale Art der Anklage nicht auch abstumpfen?

Man darf Pamphlet und Polemik nicht zur politischen Folklore verkitschen und darf sicher auch nicht die vielen Verrücktheiten und Obszönitäten vergessen, die im Namen der Kritik, auch durchaus berechtigter Kritik veröffentlicht wurden. Viele Pamphlete gelten noch heute zu Recht als schlicht skandalöse Texte. Das führt zu der Frage, ob man radikale Kritik immer als Kritik wahrnehmen soll oder ob sie oft nicht eher eine indirekte Strategie ist, die öffentliche Erregung und gesellschaftliche Überhitzung bedient. Auch darf man nicht vergessen, dass Polemik von Leuten geschrieben wird, die Polemik überhaupt schreiben können. So etwas wie eine Literatur der Marginalisierten gibt es nur als absolute Ausnahme. Damit reproduzieren sich Diskursungleichheiten schon innerhalb marginalisierter Gruppen oder Bewegungen. Es ist sozusagen ein Matroschka-Problem, ein fraktales Problem der Repräsentationsfähigkeit unterrepräsentierter Gruppen. Da kommt man nicht raus. Die polemische Literatur ist letzten Endes immer auch Literatur – verstanden als eine Praxis der zu Literatur Fähigen, die so zu Publikation und zu Publizität finden.

Wie können andere als die klassischen Leserinnen und Leser dann mit solchen Texten umgehen?

Diese Frage der populären Philologie lässt sich überhaupt erst sinnvoll stellen, seitdem das Internet möglich macht, Texte öffentlich zu kommentieren. Plötzlich haben wir zum ersten Mal ein überwältigend großes Archiv an sekundären Positionen oder Kommentaren. Wir beobachten etwas kontraintuitiv, dass öffentliche Antworten, Gegenargumente oder Kommentare zu politischen Texten oft recht komplex argumentieren: Sie zeigen Fähigkeit zu Kontextualisierung, Vergleich und Ironie. Und nicht jede Polemik wird für bare Münze genommen, anders als es oft in der Tages- und Wochenpresse geschieht. Es scheint, dass die Normalisierung oder Habitualisierung der Polemik auch eine entsprechende Lesedisposition hervorgerufen hat. So gesehen sind soziale Medien eben nicht nur ein Ort reflexiver Verkümmerung; es zeigen sich in ihnen auch differenzierte Auseinandersetzungen, die wiederum in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen seltener denn je vorzufinden sind.

Pierre-Héli Monot ist Professor für transnationale Amerikastudien: Politische Theorie, Ästhetik und Public Humanities an der LMU. Der Europäische Forschungsrat (ERC) fördert sein Projekt The Arts of Autonomy: Pamphleteering, Popular Philology, and the Public Sphere, 1988-2018 mit einem Starting Grant.

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