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Als das Unsichtbare sichtbar wurde

10.02.2023

Vor 100 Jahren, am 10. Februar 1923, ist Wilhelm C. Röntgen in München verstorben. Ein Interview mit Wissenschaftshistorikerin Kärin Nickelsen über den Entdecker der X-Strahlen.

Zum 100. Todestag von Wilhelm Conrad Röntgen erzählt Kärin Nickelsen, Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der LMU, was der Entdecker der Röntgenstrahlung für ein Mensch war und wie seine Arbeit die Wissenschaft prägte.

Als Wilhelm Conrad Röntgen im Jahre 1900 an die LMU kommt, ist er bereits eine Berühmtheit. Die Collage zeigt hinter einer Büste Röntgens einen Ausschnitt aus der Urkunde seiner Ernennung zum "ordentlichen Professor der Experimentalphysik und Vorstand des Physikalischen Instituts an der Philosophischen Fakultät der königlichen Universität München sowie zum Konservator des Physikalisch-Metronomischen Institut des Staates daselbst".

© LMU

Wilhelm Conrad Röntgen forschte 20 Jahre an der LMU München. Wie begann seine Zeit dort?

Als Röntgen im Jahr 1900 die Professur für Experimentalphysik an der LMU übernahm, war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Fünf Jahre zuvor hatte er die „X-Strahlen“ gefunden, die in Deutschland ihm zu Ehren „Röntgenstrahlen“ heißen. 1901 erhielt er dafür den Nobelpreis für Physik – der erste, der überhaupt verliehen wurde. An der LMU setzte sich Röntgen dafür ein, dass der Lehrstuhl für Theoretische Physik wiederbesetzt wurde, der seit dem Weggang von Ludwig Boltzmann im Jahr 1894 vakant war. Es kam schließlich Arnold Sommerfeld, der die Physik als Forscher und akademischer Lehrer ebenfalls tief beeinflusste.

Untersuchte Röntgen an der LMU weiterhin die neu entdeckten Strahlen?

Auch – aber Röntgen forschte schon immer an sehr unterschiedlichen Themen der Physik, darunter Thermodynamik, Elektrodynamik und Festkörperphysik. Besonders beschäftigten ihn die physikalischen Eigenschaften von Kristallen, auch in seinen Jahren an der LMU. Er hätte sich wohl sehr darüber gefreut, dass Röntgenstrahlen zum vielleicht wichtigsten Werkzeug wurden, um Kristallstrukturen aufzuklären. Die Entschlüsselung der Doppelhelix-Struktur der DNA stützte sich etwa ganz wesentlich auf Experimente mit Röntgenstrahlen.

Die Entdeckung der Röntgenstrahlung war also sein wichtigster wissenschaftlicher Beitrag. Wie gelang ihm dieser Coup?

Der Standardgeschichte zufolge war es ein Zufall. Wie viele andere Forscher, experimentierte Röntgen zu dieser Zeit mit so genannten Kathodenstrahlen. So bezeichnete man die Strahlen, die in evakuierten Glasröhren entstehen, wenn man eine starke Spannung zwischen zwei Polen anlegt. Elektronen fliegen in hohem Tempo von der Kathode, dem negativen Pol, zur Anode, dem positiven Pol. Bei ihrem Aufprall dort wird Energie als Strahlung freigesetzt. Angeblich bemerkte Röntgen, dass beim Einschalten der Röhre noch in einiger Entfernung ein Papier zu leuchten begann, das mit einer fluoreszierenden Substanz beschichtet war. Und es schimmerte immer noch, nachdem er die Röhre mit Pappe abgeschirmt hatte. Damals ließ sich das nicht erklären. Röntgen schloss daher, dass Strahlen eines neuen Typs freigesetzt worden waren: die „X-Strahlen“.

Ob es sich wirklich so zugetragen hat, weiß man jedoch nicht?

Genau. Da Röntgen verfügte, dass nach seinem Tod alle seine Unterlagen und Aufzeichnungen vernichtet werden sollten, lässt sich diese Erzählung nicht überprüfen.

Röntgen erkannte schnell, dass die Strahlen nicht nur Pappe, sondern auch Gewebe durchdringen.

Wenn man zum Beispiel eine Hand zwischen Strahlen und eine Fotoplatte legt, erhält man ein Bild der Handknochen, weil die Strahlen weiches Gewebe eher durchdringen als Knochen mit einer höheren Dichte. Tatsächlich testete Röntgen dies an seiner Frau; die Aufnahme von 1895 ist heute berühmt. Diese „Durchleuchtung“ faszinierte die Menschen: Alles wurde geröntgt, sogar ob der Schuh passt. Röntgenapparate wurden zur Attraktion bei Schaustellern auf Jahrmärkten. Die Strahlen hatten also nicht nur hohen wissenschaftlichen Wert, sondern auch hohen Publikumswert.

Mit teils schweren Folgen...

Bis man die schlimmen gesundheitlichen Folgen einer Überdosis von Röntgenstrahlen entdeckte, dauerte es lange. Vielen Versuchspersonen und auch Wissenschaftlern wurde das zum Verhängnis. Für die ersten Aufnahmen wurden Körperteile bis zu zwanzig Minuten lang bestrahlt!

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1:14 | 09.02.2023

Sie sprachen den hohen wissenschaftlichen Wert von Röntgens Entdeckung an. Können Sie das präzisieren?

Röntgenstrahlen waren zunächst nur eine neue Art von Strahlen jenseits des sichtbaren Spektrums. Davon wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige entdeckt. Aber dass sie Unsichtbares sichtbar machen konnten, ohne die Struktur zu zerstören: Das machte diese Strahlen besonders. Es gelingt entweder direkt, wie im Fall der Knochen, oder indirekt über Beugungsmuster, wie etwa in der Kristallographie. Röntgenstrahlen werden heutzutage nicht nur in der Medizin, sondern etwa auch zur Materialprüfung eingesetzt. Daneben gibt es spezielle Röntgenmikroskope oder auch Teleskope, die Röntgenstrahlen im Weltraum detektieren. So lässt sich unter anderem etwas über astronomische Objekte wie Doppelsternsysteme erfahren.

Röntgen ließ seine Entdeckungen nicht patentieren. Das Preisgeld für seinen Nobelpreis spendete er der Uni Würzburg. War er wirklich so bescheiden und interessierte sich nicht für Geld?

Nach dem, was wir über Röntgen wissen, lebte er zurückgezogen und fand seine plötzliche Berühmtheit eher störend. Das heißt aber nicht, dass er Askese übte. Als Röntgen den Nobelpreis bekam, hatte er bereits durch sein Erbe ausgesorgt – sein Vater war ein erfolgreicher Tuchhändler gewesen. Somit war Röntgen auch nicht auf das Geld aus einer Patentierung angewiesen. Das begünstigte die schnelle Anwendung und Verbreitung der Entdeckung.

Im Gegensatz zu heute waren damals große Entdeckungen eher Einzel- als Teamleistung. Es heißt, Röntgen hätte sich teilweise wochenlang in sein Labor zurückgezogen und auch dort geschlafen. War Röntgen wirklich ein Einzelkämpfer oder hatte er Unterstützung von anderen?

Der Wissenschaftsbetrieb am Ende des 19. Jahrhunderts unterschied sich maßgeblich von den Verhältnissen heute. Tatsächlich waren Einzelpublikationen noch durchaus üblich, in der Physik ebenso wie in Mathematik, Chemie und Biologie. Das hieß aber nicht, dass die Professoren ganz alleine arbeiteten. Sie wurden etwa durch hervorragende Handwerker unterstützt, die Forschungsgeräte, Präzisionsinstrumente und Laborutensilien fertigten. Assistenten und Privatdozenten mussten ebenfalls zuarbeiten; die Ehefrauen besorgten den Haushalt und übernahmen zum Teil Übersetzungen oder Korrekturen.

Röntgen verließ die Schule ohne Abitur. Er wird daher oft als Beispiel dafür genannt, dass man nicht unbedingt in der Schule erfolgreich sein muss, um ein erfolgreicher Wissenschaftler zu sein.

Gerne wird erzählt, dass Röntgen von der Schule flog, weil er einen Mitschüler nicht verriet, der eine Karikatur des Lehrers gezeichnet hatte. Verbürgt ist das aber nicht. Es ist gut möglich, dass Röntgen die Schule verließ, um in das Unternehmen seines Vaters einzusteigen. Dazu kam es allerdings nicht. Röntgen schrieb sich stattdessen an der ETH Zürich (damals Eidgenössisches Polytechnikum) zum Studium ein, das kein Abitur verlangte. Nach der Promotion ging er als Assistent von August Kundt nach Würzburg. Wegen fehlenden Abiturs wurde er nicht zur Habilitation zugelassen. Doch sein Chef erhielt einen Ruf nach Straßburg, Röntgen konnte mitgehen, und dort habilitierte man ihn auch ohne das Dokument. Nach Stationen in Hohenheim und Gießen erhielt Röntgen schließlich einen Ruf nach Würzburg, wo er nicht nur die Strahlen entdeckte, sondern auch zum Rektor gewählt wurde. In München beendete er dann 1920 seine Forscherkarriere. Drei Jahre später, am 10. Februar 1923, starb er an Darmkrebs. Heute hätte man diesen Krebs mithilfe von Röntgenstrahlen vielleicht frühzeitig entdecken können.

Kärin Nickelsen ist Inhaberin des Lehrstuhls für Wissenschaftsgeschichte der LMU. Schwerpunkte ihrer Forschung sind unter anderem die Geschichte der experimentellen Lebenswissenschaften sowie Prozesse wissenschaftlichen Arbeitens.

Wilhelm Conrad Röntgen an der LMU

Wilhelm Conrad Röntgen war von 1900 bis 1920 Professor an der LMU. Er war der erste Wissenschaftler, der den Nobelpreis für Physik erhielt (im Jahr 1901).

  1. Wilhelm Conrad Röntgen

Als der 16- oder 17-jährige Schüler Wilhelm Conrad Röntgen kurz vor dem Abitur der Schule verwiesen wurde, hätte wohl kaum jemand gedacht, welche Karriere er als Physiker nehmen würde. Er wollte nicht verraten, wer die Karikatur des Lehrers an die Tafel gemalt hatte. Also musste Röntgen Umwege in Kauf nehmen, um doch renommierter Professor zu werden. Nach dem Maschinenbaustudium am Polytechnikum in Zürich, das ohne Abitur möglich war, folgte ein Aufbaustudium der Physik, dann die Habilitation in Straßburg, und nach weiteren Forschungsstationen seine erste Professur 1888 in Würzburg. 1900 wird er dann bereits als berühmter Physiker (aber noch nicht Nobelpreisträger) nach München an die LMU berufen. Dort erhält er am 10. Dezember 1901 als erster Physiker überhaupt den Physik-Nobelpreis für die Entdeckung einer bis dahin unbekannten Strahlung, den X-Strahlen, die heute im deutschsprachigen Raum als Röntgenstrahlen bekannt sind. Das Preisgeld von 50.000 Kronen spendete er der Universität Würzburg zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

© imago images / Photo12

Schon länger hatte sich der 1845 geborene Physiker mit dem Gebiet der Kristallphysik beschäftigt, er wollte ihre Struktur und ihren Aufbau mit Strahlen und Licht untersuchen. In Würzburg experimentierte er damals schon mit Kathodenstrahlen. So arbeitete er auch am Freitag, den 8. November 1895, noch spätabends in seinem Labor. Er verwendete dafür sogenannte Kathodenstrahlen, deren genaue Eigenschaften noch unbekannt waren. Röntgen fand durch Zufall heraus, dass sie in der Lage waren, durch Materialien hindurchzutreten und so deren Struktur abzubilden. Röntgen wollte seine Entdeckung zunächst nicht an die große Glocke hängen, so wählte er, als er auf das neue Prinzip gestoßen war, auch seine Frau Bertha als erste Testperson. Die berühmte Aufnahme ihrer Hand mit dem Ehering entstand kurz vor Weihnachten, am 22. Dezember 1895. Es gibt übrigens eine zweite ähnliche Aufnahme einer Hand mit einem Ring, sie gehörte dem Anatomen Albert von Koelliker und entstand wenige Wochen später.

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Wichtig für die Versuche sind sogenannte Entladungsröhren. Die Röhre besteht aus einer Kathode und einer Anode. Zunächst werden Elektronen aus der Kathode herausgeschlagen, unter Hochspannung in Richtung Anode beschleunigt, regen dort Atome auf ein höheres Energieniveau an. Fallen diese auf ein niedrigeres Niveau, geben sie die charakteristische Röntgenstrahlung ab. Röntgen experimentierte auch in München mit solchen Röhren mit Platinkathoden. In den frühesten Röntgenröhren waren die Elektroden in ein nur teilweise von Luft evakuiertes Gefäß eingeschmolzen, dieses war oft länglich in einer Art Rohr geformt, daher der Ausdruck Röntgenröhre.

© LMU

Mit Wilhelm Conrad Röntgen gelang es der Münchner Universität, einen bereits etablierten Physiker nach München an den Lehrstuhl Experimentalphysik zu holen, es war damals der einzige Physiklehrstuhl. Das Gebäude für das Physikalische Institut selbst, das in großen Teilen noch heute steht, war erst kurz zuvor am 3. November 1894 eröffnet worden. In dem viergeschossigen Bau waren Werkstätten Laboratorien, Arbeits- und Büroräume, ein Praktikumssaal, ein großer und ein kleiner Hörsaal, sowie ein Raum für die physikalische Sammlung der Universität untergebracht. Das Institut verfügte sogar über eine eigene Station zur Erzeugung von Strom, eine Zentralheizung, elektrische Beleuchtung und Gas-, Wasser- und Stromanschluss – keine Selbstverständlichkeit in München Ende des 19. Jahrhunderts.

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Röntgen bezog sein Büro im 1. Stock, mit Blick in den Innenhof, direkt daneben hatte er sich ein privates Labor eingerichtet, wie Physikprofessor Joachim Rädler erzählt, der heute in Röntgens ehemaligem Büro sitzt. „Immer wenn lästige Gäste kamen, zog er sich schnell ins Labor nebenan zurück“, erzählt Rädler. Mit Röntgen begann das goldene Zeitalter der Physik in München. Es ging dabei nicht nur um Strukturuntersuchungen an Materie, an Kristallen und Metallen, also um den Beginn der Festkörperphysik, sondern auch darum, die Natur und Wechselwirkung der kleinsten Bausteine der Materie, den Atomen mit theoretischen Überlegungen zu verknüpfen. So bestand Röntgen darauf, dass der seit dem Abschied von Ludwig Boltzmann verwaiste Lehrstuhl für Theoretische Physik wiederbesetzt wurde, mit dem Physiker Arnold Sommerfeld.

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Die Zusammenarbeit trug bald erste Früchte. Sommerfelds Mitarbeiter Max von Laue konnte mit Hilfe von Röntgens Doktoranden Walter Friedrich und Paul Knipping die Interferenz von Röntgenstrahlen an Kristallen nachweisen. Damit war bewiesen, dass Röntgenstrahlung Wellencharakter hat und somit elektromagnetischen Ursprungs ist. Max von Laue bekam bereits 1914 für die im Jahr 1912 gemachte Entdeckung den Nobelpreis für Physik. München wurde zu einem der führenden Orte der Physik in Europa. Die Vorlesungen von Sommerfeld zogen viel Studenten an, berichtet Rädler (im Bild), darunter viele später berühmte Physiker wie Peter Debye, Peter Paul Ewald, Hans Bethe, Werner Heisenberg und Wolfgang Pauli. Die "Münchner Schule" sollte die Physik der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, insbesondere die Grundlagen der Quantenphysik, prägen.

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Nach dem Tod Wilhelm Conrad Röntgens würdigte die LMU den Physiker mit mehreren Büsten. Erhalten geblieben ist lediglich eine. Sie steht seit Kurzem im Physikgebäude im ersten Stock direkt vor Röntgens ehemaligen Büro. Sie erinnert an den weltberühmten Nobelpreisträger, der vor 100 Jahren am 10. Februar 1923, in München starb.

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