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Argumente für den freien Willen

06.05.2021

Neuberufen an der LMU: Christian List bekleidet den neu gegründeten Lehrstuhl für Philosophie und Entscheidungstheorie.

Professor Christian List, seit Januar an der LMU, lehrte und forschte viele Jahre an der London School of Economics. | © LMU

An jeder neuen Weggabelung steht sie an: eine Entscheidung. Aber entscheiden wir uns aus freiem Willen? Oder bestimmen physikalische und neurologische Gesetzmäßigkeiten unser Handeln? Der Philosoph Christian List ist überzeugt, dass freier Wille existiert. „Betrachten wir ihn im richtigen Kontext, zeigt sich, dass er unabdingbar ist, um unsere Welt zu erklären.“

Seit Januar bekleidet Professor List den neu gegründeten Lehrstuhl für Philosophie und Entscheidungstheorie an der LMU. Als Mitglied des Vorstandes des Munich Center for Mathematical Philosophy arbeitet er an der Schnittstelle zwischen Philosophie, Mathematik, Psychologie und Politikwissenschaften.

Immer wieder befasst er sich dabei mit dem Thema des freien Willens und bricht in seinem 2019 erschienenen Buch Why Free Will is Real eine Lanze für dessen Existenz. „In der Philosophie ist der freie Wille – neben dem Bewusstsein oder etwa der Intentionalität – eines der zentralen Konzepte für unsere grundsätzliche Einschätzung der Besonderheit menschlichen Handelns und Entscheidens.“


Mittlerweile werde jedoch „heiß diskutiert“, inwieweit moderne Ergebnisse aus Neurologie, Psychologie und Physik die konventionelle philosophische Vorstellung etwa zu menschlicher Verantwortung herausforderten. „Einer mittlerweile recht einflussreichen Denkschule zufolge ist der freie Wille nur eine Illusion, der Mensch eine Art biophysische Maschine, die zu 100 Prozent determiniert ist, ihre Arbeitsweise ein zwangsläufiges Produkt der Naturgesetze.“

Würde diese Schule sich durchsetzen, fürchtet List, hätte das großen Einfluss auf die Bedeutung des Verantwortungskonzeptes – nicht nur im Straf- und Zivilrecht, sondern auch in ganz alltäglichen Moralvorstellungen.

„Zwar wäre es intellektuell fragwürdig, die Erkenntnisse der Physik, Bio-, Neuro- und Gesellschaftswissenschaften zu ignorieren“, so Christian List. „In meinem Arbeiten bin ich über die Jahre aber zu dem Ergebnis gekommen, dass es sehr wohl möglich ist, ein Argument für die reale Existenz des freien Willens zu führen, basierend auf unseren Erkenntnissen über Entscheidungsverhalten quer durch die Human- und Gesellschaftswissenschaften.“ Entwickle man ein hinreichend nicht reduktionistisches Bild des menschlichen Handelns, könne man Argumente gegen den freien Willen solide entkräften.

Lists Interesse an der Wissenschaft wurde schon früh geweckt. Aufgewachsen im Taunus, mit einem Gymnasium unterhalb des Loreley-Felsens (in St. Goarshausen), entwickelte er für „Jugend forscht“ eine „Version der Programmiersprache Pascal mit objektorientierten Elementen“. Die Teilnahme brachte ihm nicht nur den Bundessieg in Mathematik/Informatik ein, sondern habe vor allem seine Gedankenwelt für die Wissenschaft geöffnet, „insbesondere für die Kombination der Bereiche Mathematik und Philosophie“.

Bei einem Bachelor-Studium eben dieser Fächer in Oxford entwickelte er ein zunehmendes Interesse an Fragen der politischen Philosophie. Im anschließenden Master-Studium Politikwissenschaft, ebenfalls in Oxford, faszinierte ihn insbesondere das Fachgebiet Social Choice Theory. „Im Deutschen würde man sagen: Sozialwahltheorie oder besser: Kollektive Entscheidungstheorie. Mithilfe mathematischer Modelle erklärt man dabei kollektive Entscheidungsprozesse wie Wahlverfahren in einer sehr eleganten, allgemeinen Form.“

Besonders begeisterten List sogenannte Unmöglichkeitssätze – Theoreme, die etwa zeigen, dass bestimmte Anforderungen an ein ideales demokratisches Wahlverfahren nicht gleichzeitig erfüllbar sind.

Auch in seiner Doktorarbeit in Oxford, offiziell in der Politikwissenschaft angesiedelt, beschäftigte er sich mit mathematischen, aber auch philosophisch orientierten Fragen zu kollektiven Entscheidungen. Gegen Ende seiner Dissertation forschte List mehrere Monate an der Australian National University in Canberra und anschließend im Rahmen eines akademischen Jahres am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Harvard University am dortigen Center for Basic Research in the Social Sciences. Nach Postdoc-Fellowships in Oxford und Canberra nahm er eine Lecturer-Stelle, später eine Professur, an der London School of Economics an, an der er sodann, von zahlreichen Gastaufenthalten abgesehen, 17 Jahre lang lehrte und forschte.

In seinen Arbeiten mit besonderem Fokus auf individueller und gemeinschaftlicher Entscheidungsfindung sowie beabsichtigter Handlungsfähigkeit beschäftigte er sich mit Themen wie: Independence and interdependence in collective decision making: an agent-based model of nest-site choice by honeybee swarms über Entscheidungsprozesse bei Tieren, Where do preferences come from? über die Struktur von Präferenzen oder etwa Group Agency: the possibility, design, and status of corporate agents über Gruppen als Akteure.

Seit Januar dieses Jahres wirkt List nun an der LMU. Ein wichtiger Faktor, den Ruf anzunehmen, sei das Munich Center for Mathematical Philosophy (MCMP) gewesen. „Das Zentrum, das Professor Hartmann und Professor Leitgeb da aufgebaut haben, ist ein Kristallisationspunkt im Bereich der formalen und mathematischen Philosophie wie kaum ein anderer Ort der Welt.“

Auch die insgesamt breite Orientierung der Fakultät für Philosophie mit Stärken in den verschiedensten Forschungsbereichen hat ihn sehr gereizt. Ein persönlicher Grund am Rande sei darüber hinaus der Brexit gewesen, „mit seinen Auswirkungen auf das politisch-gesellschaftliche Klima in Großbritannien“.

An der LMU zählen, neben weiterer Forschung zum freien Willen, vor allem Theorien zum Entscheiden von Individuen und Gruppen zu Lists Kernthemen. „Wie kann man sie mit mathematischen Modellen überzeugend beschreiben? Und wie kann man das Spannungsverhältnis zwischen idealem, rationalem Handeln und tatsächlichem Handeln erklären?“, so der Philosoph.

„Aber die zentrale philosophische Frage für mich ist: Wie passt das menschliche Handeln und Entscheiden in das Universum, die Natur, die Welt hinein vor dem Hintergrund eines von Naturgesetzen und Wissenschaften bestimmten Weltbilds?“ Dieses Phänomen, „der Geist des menschlichen Handelns“, sei so erstaunlich wie überraschend – und das, obwohl es uns an jeder Weggabelung wieder begegnet.

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