Haben Sie in Ihrer Nachbarschaft auch schon einmal einen „neuen“ Ort entdeckt, ein nettes Café oder einen hübschen Garten vielleicht, und dann gemerkt, dass es den schon lange gibt und Sie nur nie richtig geschaut haben? So ging es den Astrophysikerinnen und Astrophysikern, die vor vier Jahren in der Nachbarschaft der Sonne zufällig eine gigantische zusammenhängende, wellenförmige Gasstruktur entdeckt haben. Die sogenannte Radcliffe-Welle ist eine von Sternentstehungsgebieten durchwirkte gewellte Gaskette, die sich über das halbe Firmament erstreckt: entlang dem Sternenband der Milchstraße von der Konstellation Cygnus bis hin zum Orion sowie 500 Lichtjahre ober- und unterhalb der galaktischen Scheibe. In einer neuen, im Fachjournal Nature publizierten Arbeit zeigten die Forschenden nun, dass diese wellenförmige Gaskette tatsächlich um die Ebene der Milchstraße oszilliert und vom Zentrum unserer Galaxis wegdriftet.
Unsere galaktische Nachbarschaft in 3D
Wir befinden uns mitten in der Stern- und Gasscheibe des Milchstraßensystems; eine Außenansicht unserer Heimatgalaxie werden wir daher nie erhalten. Aber wir können ein Bild unserer galaktischen Nachbarschaft von innen her erstellen und so die Gestalt der Milchstraße bestimmen. Ein internationales Team von Forschenden der Harvard University, der LMU und der Universität Wien unternahm eine erneute Analyse der Daten des Europäischen Weltraumteleskops GAIA, das seit über zehn Jahren mit außerordentlicher Genauigkeit die Bewegung der Sterne des Milchstraßensystems kartiert. Mit zusätzlichen Messungen von absorbiertem Sternenlicht gelang ihnen eine tomographische Rekonstruktion der dreidimensionalen galaktischen Staubverteilung. Zusammen mit den von GAIA gemessenen Sternbewegungen errechneten sie so eine dynamische 3D-Karte aller benachbarten Sterngruppen und Gaswolken.
Am zweidimensionalen Nachthimmel ist die Welle unsichtbar. Erst die neue 3D-Technik zur Kartierung von interstellaren Wolken hatte in früheren Untersuchungen das gewaltige Wellenmuster enthüllt. Das für die neue Arbeit vom Harvard-Doktoranden Ralf Konietzka (zuvor Student im Elite-Masterstudiengang Theoretische und Mathematische Physik (TMP) an der LMU) angeführte internationale Entdeckerteam, darunter auch Professor Andreas Burkert, Astrophysiker an der LMU und im Exzellenzcluster ORIGINS, sowie Forschende der Universitäten Harvard und Wien, lieferte nun nun neue Erkenntnisse. Es zeigte mithilfe der 3D-Bewegungen von jungen Haufen von Babysternen in Sonnennähe, dass die Radcliffe-Welle nicht nur wie eine Welle aussieht, sondern sich auch wie eine Welle bewegt. Mit anderen Worten: Sie oszilliert.
„Anhand der Bewegung der Baby-Sterne, die entlang der Radcliffe-Welle geboren wurden, können wir die Bewegung ihres Ursprungsgases nachverfolgen, um zu zeigen, dass die Radcliffe-Welle tatsächlich schwingt”, sagt der ehemalige LMU-Student und jetzige Harvard-Doktorand Ralf Konietzka.
Schaukelnde Babysterne
Die beobachtete Schwingung steht im Einklang mit dem, was Physikerinnen und Physiker als Wanderwelle bezeichnen. Wie bei Wellen, die sich über dem offenen Ozean ausbreiten, verschieben sich die Wellenberge und -täler der Radcliffe-Welle mit der Zeit. Die in der Welle entstehenden Babysterne schaukeln darin auf und ab und signalisieren so eine wiegende Bewegung in der galaktischen Scheibe.
Unsere Sonne befindet sich (zufällig) im Zentrum der Lokalen Blase, einem von mehreren Supernova-Ausbrüchen leer gefegten wachsenden Hohlraum, an dessen Rändern neue Sterne entstehen. Anhand der Wanderrichtung der Radcliffe-Welle lässt sich zurückverfolgen, dass der Sternhaufen, dessen Supernovae die Lokale Blase geschaffen haben, womöglich einst in einer Sternenkinderstube der Radcliffe-Welle entstanden ist.
„Die spannende Frage ist nun, wie diese große Störung entstehen konnte, die gerade an der Sonne vorbeiläuft, und was wir daraus über die Struktur und Entwicklung unserer Milchstraße lernen können”, sagt LMU-Astrophysiker Burkert.
Es ist noch unklar, welche Prozesse für die Radcliffe-Welle verantwortlich sind. Künftige Beobachtungen der Bewegung von Sternentstehungsgebieten in anderen Galaxien könnten Aufschluss darüber geben, ob großräumige Gasstrukturen wie die Radcliffe-Welle verbreitete Phänomene sind, und möglicherweise Indizien zu ihrer Herkunft liefern.
„Wir können nun die verschiedensten Theorien zur Entstehung der Radcliffe-Welle testen, von Explosionen massereicher Sterne, sogenannten Supernovae, bis hin zu Störungen außerhalb der Galaxie, etwa durch eine Zwerggalaxie, die mit unserer Milchstraße kollidiert“, sagt Ralf Konietzka.
R. Konietzka, A. A. Goodman, C. Zucker, A. Burkert, J. Alves, M. Foley, C. Swiggum, M. Koller, N. Miret-Roig: The Radcliffe Wave is Oscillating; Nature, 2024