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Ausgestaltung der Kampfzone

28.10.2019

Zum Auftakt der Vortragsreihe „What about Art?“ am CAS spricht der Jurist Jens Kersten im Interview über neue Konfliktlinien in den Kulturdebatten, über Verbote und Verletzlichkeiten und Chancen für Interessenausgleich und Partizipation.

„Wie frei ist die Kunst?“ Es klingt so, als schwinge in der Frage ein „noch“ mit. Was bedroht die Kunstfreiheit? Kersten: Sie ist heute nicht stärker bedroht, als sie es in ihrer Geschichte schon immer war. Kunst war immer gegen den Staat gerichtet, gegen herrschende Klassen, gegen Wirtschaft, gegen Kirche, gegen Religion. Künstlerinnen und Künstler haben immer Grenzen überschritten und werden das auch in Zukunft tun. Und das gefiel und gefällt eben nicht allen. Heute ist die Kunstfreiheit im Grundgesetz verankert, Künstlerinnen und Künstler nehmen sie in Anspruch. Die Konflikte, die heute durch die Kunst aufgerufen werden, sind allerdings anderer Natur als in früheren Zeiten, weil die Sensibilität für Grenzen des Zulässigen in unserer Gesellschaft in einer Weise gestiegen ist, dass die Kunst selbst in Bedrängnis kommt.

Was hat Grenzen so wichtig werden lassen? Kersten: Da ist einerseits eine sehr starke Individualisierung der Gesellschaft; die Menschen sind auf sich selbst zurückgeworfen. Das hat nicht nur mit der Art zu tun, wie wir wirtschaften, sondern mittlerweile auch damit, wie wir kommunizieren. Andererseits bilden sich – nicht nur, aber insbesondere auch in den Sozialen Medien – zugleich auch Kollektive, die sich dann in vielen Fällen durch – oft auch nur vermeintlich – grenzverletzende Kunst angegriffen fühlen.

Können Sie das an Beispielen konkretisieren? Kersten: Nehmen Sie den Konflikt um das Gemälde „Open Casket“ der bekannten US-amerikanischen Malerin Dana Schutz. Vom Prinzip her geht es dabei um den Vorwurf der kulturellen Aneignung. Schutz hatte ein sehr bekanntes Foto aus den 1950er-Jahren als Vorbild für ihr Gemälde gewählt. Die Aufnahmen zeigen das Begräbnis des 14-jährigen Emmett Till, den zwei Weiße in Mississippi auf brutalste Weise ermordet hatten. Die Mutter ließ ihren Sohn im offenen Sarg zu Grabe tragen, um aller Welt zu zeigen, wie bestialisch die Täter den Jungen zugerichtet hatten. Der Fall ist ein maßgeblicher Auslöser für die Bürgerrechtsbewegung in den USA gewesen, und die Fotos des ermordeten Emmett Till haben ikonischen Charakter. Dana Schutz hat sie nun zum Anlass genommen, um mit ihrem Gemälde ihrerseits gegen Rassenhass und Gewalt gegen Minderheiten zu protestieren. Kritikerinnen und Kritiker aber hielten ihr entgegen, dass sie sich damit eine historische Situation aneigne, was ihr als Weiße in diesem Fall nicht zustünde. Sie würde sie zudem direkt oder indirekt kommerziell ausnutzen, wenngleich das Bild nach Aussage von Dana Schutz gar nicht zum Verkauf gestanden hatte. Demgegenüber forderten Aktivistinnen und Aktivisten teilweise die Zerstörung des Kunstwerkes.

Worauf lief der Konflikt hinaus? Kersten: Aus juristischer Perspektive ist überhaupt nichts passiert. Dana Schutz kann die Kunstfreiheit für sich in Anspruch nehmen, sie hat kein Persönlichkeitsrecht verletzt. Umgekehrt haben die Kritikerinnen und Kritiker vor dem Hintergrund der Diskriminierung, die Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner in der Geschichte erfahren haben und heute noch erfahren, ihre Meinungsfreiheit und in Aktionen selbst ihre Kunstfreiheit in Anspruch genommen, um gegen das Bild zu protestieren, ohne dass wiederum Persönlichkeitsrechte dabei verletzt wurden. Ganz offensichtlich handelt es sich für alle Seiten um einen äußerst schmerzhaften Prozess, wenn das Verhältnis von Kunstfreiheit und den berechtigten Interessen benachteiligter Gruppen gesellschaftlich neu ausgehandelt wird. Es zeigt aber zugleich, dass man Freiheiten eben auch aushalten muss.

Sie haben in Bezug auf ein anderes Kunstwerk geschrieben: „Nur Diktaturen dekorieren, Demokratien können sich Kunst leisten.“ Kersten: Natürlich wird immer wieder diskutiert, welche Kunst denn der Staat aufhängt. Die jüngste Debatte ging darum, mit welchen Bildern sich beispielsweise die Bundeskanzlerin in ihrem Büro umgibt. Lange hingen dort zwei Werke von Emil Nolde. Doch nach einer Ausstellung im Hamburger Bahnhof, die Noldes Verstrickungen in der NS-Zeit neu bewertete, hat Angela Merkel das Problem dahingehend gelöst, dass sie diese Bilder nicht mehr zurückwollte. Bei realistischer politischer Betrachtung führte kein Weg für Emil Nolde in das Büro der Bundeskanzlerin zurück. Einen großen Streit gab es auch um die Frage, welche Kunst im Bundestag präsentiert werden darf. Der Bundestag hat äußerst kontrovers über die Verhüllung des Reichstags durch Jeanne-Claude und Christo debattiert: Einige Abgeordnete fühlten die „Würde des Hauses“ dadurch verletzt. Doch letztlich hat die Verhüllung des Reichstags ganz entschieden zur Akzeptanz des Reichstagsgebäudes als Sitz des Deutschen Bundestags und Ort der Demokratie beigetragen. Doch damit nicht genug des Streits um Parlamentskunst: An der Front des Reichstagsgebäudes ist groß die Inschrift „Dem deutschen Volke“ angebracht. Der Künstler Hans Haacke hat bei seinem Kunstwerk im nördlichen Lichthof im Jahr 2000 ein Beet angelegt und darauf die Aufschrift „Der Bevölkerung“ platziert. Es gab Kritik sogar von hochrangigen Juristen, dass diese Kunst im Reichstaggebäude verfassungswidrig sei. Und darauf spielt der von Ihnen zitierte Satz an. Wenn wir in einer freien Gesellschaft einem Künstler anvertrauen, diesen Lichthof des Reichstagsgebäudes zu gestalten, dann mag es sein, dass es nicht allen gefällt, aber dann muss man auch aushalten, was er da macht und zeigt.

Was soll daran verfassungswidrig sein? Kersten: Wie gesagt, einige Verfassungsrechtler glaubten, durch Haackes Kunstwerk werde die Widmung des Reichstagsgebäudes – „Dem deutschen Volke“ – als Grundlage der Demokratie gleichsam widerrufen und stattdessen durch eine andere größere Entität – „Der Bevölkerung“ – ersetzt. Ich persönlich würde das Kunstwerk ganz anders interpretieren: Hans Haacke weist hier auf das Spannungsverhältnis zwischen dem „deutschen Volke“, also den Bürgerinnen und Bürgern, und den vielen Menschen hin, die hier leben und keine Bürgerrechte genießen. Es muss unserer Demokratie aber darauf ankommen, das demokratische Versprechen des liberalen Verfassungsstaats einzulösen: Alle Menschen, die dauerhaft in der Bundesrepublik leben, können sich politisch beteiligen, wenn sie dies persönlich wollen. Bedenkt man darüber hinaus die Entstehungszeit des Reichstagsgebäudes und seiner Widmung in der wilhelminischen Ära, also in der Zeit des deutschen Obrigkeitsstaates, zeigt dieses Beispiel sehr deutlich, wie schnell solche Fragen der Kunstfreiheit dann doch mit Identitäten und deren Repräsentation zu tun haben.

"Potenziell sexistische Passagen"? Nach Studierendenprotesten und hitzigen Debatten ließ der Akademische Senat der Alice Salomon Hochschule das Gedicht von Eugen Gomringer von der Fassade entfernen. Foto: imago images / Jürgen Ritter

Und sie berühren auch die Frage nach Erwartungen, wie Kunst im öffentlichen Raum zu sein hat. Kersten: Ja, noch deutlicher zeigt das ein anderer Fall aus Berlin, der 2017 Furore machte. Dabei ging es um ein Gedicht des bis dahin nicht sonderlich bekannten Lyrikers Eugen Gomringer an einer Fassade der Alice Salomon Hochschule. Das Gedicht stammt aus den 1950er-Jahren, die Hochschule hatte den Dichter 60 Jahre später mit einem Preis geehrt und aus diesem Anlass das Gedicht auf der Fassade aufbringen lassen. Auf Proteste von Studierenden hin, es enthalte potenziell sexistische Passagen, entspannten sich hitzige Debatten. Am Ende ließ der Akademische Senat der Hochschule das Gedicht übermalen. Nun ist es bei Gedichten so: Wären sie eindeutig, wären sie keine Gedichte – auch wenn es sich bei Gomringer um den Begründer der Konkreten Poesie handeln mag. Auch in diesem Fall war der Aufschrei groß, aber aus wiederum juristischer Perspektive liegt es im Ermessen der Hochschule zu entscheiden, wie sie sich durch Kunst repräsentiert sehen will. Nur wenn das Gedicht da einmal auf der Fassade steht, heißt es nicht, dass es auch da bleiben muss. Die Hochschule hat zudem das Gedicht nicht einfach übermalt, sie hat eine Dokumentation der Ereignisse angelegt, das Gedicht ist als Text weiterhin verfügbar. Die Herausforderung ist – wie im Fall des Büros der Bundeskanzlerin – das Problem der leeren Wand. Wenn die Repräsentation des Staats oder einer Einrichtung wirklich allen gefallen soll, alle integrieren soll, dann wird es bei einer Leerstelle bleiben müssen. Wenn es aber um die künstlerische Repräsentation des Staats oder einer Einrichtung geht, dann wird dies nie allen gefallen. Man wird ja wieder eine Künstlerin oder einen Künstler auswählen oder beauftragen müssen – und dann eben auch die Freiheit dieser Künstlerin beziehungsweise dieses Künstlers aushalten müssen.

Beim Jubiläum des Bauhauses in Dessau sollte im vergangenen Jahr die linke Punkband Feine Sahne Fischfilet spielen. Daraus wurde nichts, das Konzert wurde abgesagt, nachdem der Shitstorm aus der rechten Ecke geblasen hatte. Die Veranstalter fürchteten Ausschreitungen. Kersten: Angesichts der Texte der Band kam auch die Frage auf: Handelt es sich dabei im weitesten Sinne um Kunst oder um direkte politische Agitation? Und kann nicht auch direkte politische Agitation schlicht Kunst sein? Was repräsentiert die Band? In der Tat sehen sich Museumsleitungen heute immer stärker herausgefordert, wenn der Shitstorm kommt. Das zeigen nicht nur die Debatten um inkriminierte Kunstwerke und Ausstellungen. Wenn ich den Zeitgeist auf eine positive Formel bringen sollte: Wir leben heute in einer Gesellschaft der Repräsentation. Vor dem Hintergrund Neuer Medien und der Art, wie wir als Gesellschaft kommunizieren, kommt es heute sehr darauf an, immer die Frage beantworten: Wer kommt wie, wo, wann und warum vor oder eben nicht. Und in diesem Sinne ließen sich Museen meines Erachtens tatsächlich sehr viel partizipativer gestalten. Vielleicht könnte man den Besuchern mehr Möglichkeiten geben, zu kommentieren und ihre Meinung zu sagen. Ich halte es nicht für den richtigen Weg, neben den Kunstwerken lange Texte anzubringen und gegebenenfalls quasi „von oben“ vor einem Künstler zu warnen, wie es auch schon gefordert wurde. Aber wenn Sie an Phänomene wie Pokémon GO denken: Man könnte ähnliche Techniken ja sinnvoll nutzen und für die Museen bestimmte Apps freischalten, mit denen sich Bilder mit Kommentaren versehen lassen und dann für alle Nutzer der App sichtbar sind. Das wäre eine aktive Form der Partizipation für alle, die daran teilnehmen möchten. Damit werden die Konflikte nicht weg sein, aber es ließe sich damit immerhin zwischen den Positionen vermitteln.

Kunst war immer eine Kampfzone, sagen Sie. Kersten: Die Kunstfreiheit ist eines der Grundrechte, die uns immer veranschaulichen, wo ihre Grenzen sind und dass sie überschritten werden können. Insofern dient die Kunstfreiheit stets auch der Offenheit und der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Es gibt keinen anderen Bereich, in dem man wie in der Kunst mit einer radikalen und gleichzeitig sensiblen Position veranschaulichen kann, wie Menschen leben und fühlen. Es tut uns ganz gut, (wieder) zu lernen, die Freiheit des jeweils anderen auszuhalten. Wir schaffen das!

Prof. Dr. Jens Kersten ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der LMU.

Zusammen mit Prof. Dr. Dr. Antoinette Maget Dominicé vom Institut für Kunstgeschichte leitet Jens Kersten derzeit den Schwerpunkt „What about Art?“ am Center for Advanced Studies (CAS) der LMU.

Im Wintersemester veranstaltet das CAS die Vortragsreihe „What about Art?“ , in der unter anderem der britische Kunsthistoriker Neil MacGregor auftritt, ehemals Direktor des British Museum, London, und Gründungsintendant des Humboldtforums, Berlin.

Der erste Abend am Mittwoch, 30. Oktober, steht unter der Frage: „Wie frei ist die Kunst?“. Das ist auch der Titel eines Buches von Hanno Rauterberg (Die Zeit), der an diesem Abend im CAS von 19:00 Uhr an mit Prof. Dr. Barbara Vinken, Ph.D., Institut für Romanische Philologie der LMU, und Jens Kersten diskutiert.

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