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Bildung nach der Coronapandemie: „Schule weiterdenken“

16.05.2022

Wer unter den Schulschließungen besonders gelitten hat, wie sich gegensteuern ließe und warum bei etwa 20 Prozent aller Kinder die Kompetenzen voraussichtlich nicht für eine Berufsausbildung reichen: Bildungsforscherin Annabell Daniel im Interview.

Leeres Klassenzimmer

© picture alliance/dpa | Sven Hoppe

Prof. Annabell Daniel ist Professorin für Allgemeine Pädagogik mit Schwerpunkt empirische Bildungsforschung.

Sie forschen zu Bildungsungleichheit. Was hat sich durch die Coronapandemie geändert?

Annabell Daniel: Die Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche lernen, sind sehr unterschiedlich – je nachdem, welche Ressourcen sie im Elternhaus vorfinden. Die Phasen des Distanz- und Wechselunterrichts während der Pandemie haben das in aller Deutlichkeit gezeigt: Nicht jedes Kind hat einen eigenen Arbeitsplatz und Laptop oder findet die nötige Unterstützung zuhause. Dadurch wurde in der breiten Öffentlichkeit sichtbar, dass Lernen sehr stark vom Elternhaus abhängt und wie wichtig die Schule für die Entwicklung der Kinder ist.

Ohne Schule kommt der Einfluss der Familie noch viel stärker zum Tragen und Ungleichheiten verschärfen sich. Durch Schule lässt sich das zumindest teilweise auffangen.

Aus internationalen Studien wissen wir, dass es durch die Schulschließungen deutliche Lern- und Leistungseinbußen gab. Davon sind nicht alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen betroffen, sondern vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die weniger Unterstützung zuhause vorfinden. Sie sind deutlich schlechter durch die Pandemie gekommen als Kinder aus sozial privilegierten Familien. Es ist anzunehmen, dass diese Befunde auch auf Deutschland übertragbar sind. Erste Studien für die Grundschule legen nahe, dass sich auch hierzulande die Lesekompetenz insbesondere bei den Viertklässlerinnen und Viertklässlern verschlechtert hat, die keinen eigenen Schreibtisch besitzen oder keinen Internetzugang haben.

Insgesamt ist davon auszugehen, dass mit Blick sowohl auf die fachlichen Kompetenzen als auch die psychosozialen Folgen vor allem die Kinder und Jugendlichen unter den pandemiebedingten Einschränkungen gelitten haben, die auch schon vorher schlechtere häusliche Rahmenbedingungen vorfanden. Es ist ganz wichtig, dass wir diese Gruppe im Blick behalten.

Fördern nach Bedarf

Wie ließe sich gegensteuern?

Es gibt bereits erste Förderangebote im Rahmen des Corona-Aufholprogramms. Diese umfassen sowohl außerschulische Angebote als auch Maßnahmen zum Abbau von Lernrückständen. Die bereitgestellten Mittel hierfür sollten allerdings weniger gießkannenmäßig auf alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen, sondern bedarfsgerecht verteilt werden.

Die Angebote sollten denen zugutekommen, die sie am meisten brauchen. Das erfordert, Ungleiches auch ungleich zu behandeln: Gerade die Schulen in sozialräumlich schwierigen Lagen, deren Schülerschaft aus eher sozial benachteiligten Familien kommt, sollten mehr Flexibilität und Mittel, auch personelle Ressourcen, bekommen.

Ziel dieser Fördermaßnahmen sollte es zudem sein, insbesondere die sprachlichen und mathematischen Basiskompetenzen, die eine Voraussetzung auch für das Lernen in anderen Bereichen sind, zu stärken. Dass bestimmte Schülerinnen und Schüler hier entsprechende Defizite aufweisen, ist nicht erst seit der Pandemie bekannt. Gut 20 Prozent der Jugendlichen, und dieser Anteil ist leider sehr beständig über die letzten Jahre, gelten als kompetenzarm. Ihre sprachlichen und mathematischen Kompetenzen reichen sehr wahrscheinlich nicht aus, um erfolgreich eine Berufsausbildung zu absolvieren. Das ist erschreckend.

Wie sieht deren Berufs- und Lebensweg aus?

Viele der Jugendlichen, die keinen Hauptschulabschluss erreichen, münden häufig in sogenannten Übergangsmaßnahmen, weil sie keinen Ausbildungsplatz finden. Für sie dürfte es aktuell besonders schwierig sein, weil das Angebot infolge der Coronapandemie eingebrochen ist.

Eine Berufsausbildung ist in Deutschland der zentrale Weg, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, einmal abgesehen von der Möglichkeit, ein Studium aufzunehmen. Jugendliche, die die Kompetenzen dafür nicht mitbringen, haben es entsprechend sehr schwer. Im Erwerbsleben erwarten sie häufig unsichere Beschäftigungsverhältnisse mit geringerem Einkommen und geringerem sozialen Prestige.

Annabell Daniel

ist seit 2021 Professorin für Allgemeine Pädagogik mit dem Schwerpunkt empirische Bildungsforschung an der LMU und Fellow am College for Interdisciplinary Educational Research. | © Henrik Pfeifer

Woran liegt es, dass Deutschland in Sachen Bildungsgerechtigkeit so großen Nachholbedarf hat?

Bildungsungleichheit gibt es in jedem Land. Aber dieser Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg ist in manchen Ländern etwas schwächer und in anderen, wie Deutschland, leider stärker. Der sogenannte PISA-Schock Anfang der 2000er-Jahre zeigte, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenzen in Deutschland so stark war wie in keinem anderen OECD-Staat. Das hat für Aufsehen gesorgt, und seitdem hat sich durchaus etwas getan. Gerade Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien haben ihre Kompetenzen verbessert. Aber der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb ist im internationalen Vergleich noch immer sehr stark.

Hierbei zu betonen ist allerdings, dass diese Ungleichheiten nicht erst in der Schule entstehen, wo sie durch PISA und Co. sichtbar wurden, sondern schon sehr viel früher in den Familien, im frühkindlichen Bereich.

Bereits zum Schuleintritt gibt es sehr große Unterschiede in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft. Im Verlauf der Grundschule unterscheiden sich Kinder verschiedener Herkunftsgruppen um bis zu drei Entwicklungsjahre, und das setzt sich fort.

Möglichst früh ansetzen

Was müsste passieren, damit Kinder bei uns bildungsgerechter aufwachsen?

Dazu braucht es eine konsequente Weiterentwicklung des ganzen Bildungssystems auf allen Ebenen: in der Schule, der Lehramtsausbildung und vor allem im Unterricht. Wichtig sind nachhaltige Strukturen und keine kurzfristigen Programme.

Es ist unstrittig, dass Maßnahmen früh ansetzen müssen. Je früher sie beginnen, desto wirkungsvoller können sie sein. Vielversprechend scheint der Ausbau und vor allem auch die Qualitätsentwicklung in der frühkindlichen Bildung, um bereits zu einem frühen Zeitpunkt Unterschiede in den Fähigkeiten ausgleichen zu können, die es zwischen verschiedenen Herkunftsgruppen gibt.

Kein Kind verlieren

Und was muss sich an den Schulen ändern?

Wir sollten versuchen, Schule weiterzudenken. Dazu gehört, stärker in den Bereich der Ganztagsschulentwicklung zu investieren. Zwar gab es in den letzten Jahren einen quantitativen Ausbau, aber es fehlen verbindliche Qualitätskriterien, um Bildungsräume zu schaffen, in denen sich Schülerinnen und Schüler entfalten können. Dabei geht es nicht nur um fachliches Lernen, sondern auch um das soziale Miteinander.

Der Abbau von Ungleichheiten kann auch nicht nur über die Schule allein gelingen. Wir müssen das gesamte Lebensumfeld der Kinder in den Blick nehmen und hier gute Angebote schaffen, auch zusammen mit Vereinen und der Kinder- und Jugendhilfe.


Sie sagten vorhin, wir brauchen guten Unterricht. Wie muss der aussehen?

Es braucht einen Unterricht, der individuell auf die einzelnen Kinder eingeht und weniger als bislang am Durchschnitt der Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler einer Klasse ausgerichtet ist und damit in Kauf nimmt, dass ein gewisser Teil von ihnen zurückbleibt.

Das Ziel muss es sein, alle Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Fähigkeiten und Voraussetzungen, die sie mitbringen, individuell zu fördern und damit allen die Chance zu geben, ein Kompetenzniveau zu erreichen, das es ihnen ermöglicht, an der Gesellschaft teilzuhaben.

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