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Biophysik: Kräftemessen mit Corona

01.04.2022

Wie stabil können Coronaviren an menschliche Zellen binden? Ein LMU-Team hat eine Messmethode dafür entwickelt. Damit lassen sich auch Substanzen untersuchen, die verhindern sollen, dass das Virus bindet.

Darstellung eines SARS-CoV-2-Virus, das an eine Zelloberfläche bindet | © Chris Hohmann/LMU

Die meisten Coronainfektionen beginnen im Mund- und Rachenraum: Die Viren binden dort mit ihrem Spike- oder „Stachel“- Protein an sogenannte ACE2-Rezeptoren auf der Zelloberfläche und schleusen ihr Erbgut ein. Nach dieser initialen Bindung an den Rezeptor sind die Viren jedoch zahlreichen Kräften ausgesetzt: So erzeugen Atmen, Husten und Niesen Luftströme, die durch Mund und Nase rauschen und die Viren von potenziellen Wirtszellen lösen können. Nur wenn ihre Bindung an ACE2 auch starken Kräften standhalten kann, können die Viren letzten Endes die Zellen infizieren.

Die Gruppen der Biophysik-Professoren Hermann Gaub und Jan Lipfert an der LMU sind Experten in „Kraftspektroskopie“, einem Sammelbegriff für Techniken, mit denen das Verhalten von (Bio)molekülen unter Krafteinwirkung untersucht werden kann. Ihre Mitarbeiter Sophia Gruber und Magnus Bauer entwickelten in ihren Promotionsarbeiten einen Assay, um die Bindung des Coronavirus-Spike-Proteins an ACE2 zu untersuchen. Sie setzten dabei auf zwei unterschiedliche Kraftspektroskopie-Techniken: Zum einen benutzten sie ein Rasterkraftmikroskop (atomic force microscope, AFM) um an den Proteinen zu ziehen, eine Methode, die starke Kräfte und schnelle Messungen ermöglicht. Parallel verwendeten sie sogenannte magnetische Pinzetten, die äußerst empfindlich auch kleinste Kräfte auflösen können. Mit diesen Methoden imitierten sie die Kräfte im Mund- und Rachenraum und analysierten, welche Kräfte nötig sind, um das Virus von seinem Bindungspartner zu trennen. Durch die Verwendung der komplementären Kraftspektroskopie-Techniken konnten sie dabei den gesamten physiologisch relevanten Kraftbereich abdecken.

Die Forscherinnen und Forscher nutzten ihren neu entwickelten Assay, um die Stabilität des neuen Coronavirus SARS-CoV-2 mit derjenigen des älteren SARS-Coronavirus SARS-CoV-1 zu vergleichen, das die erste SARS-Epidemie in den Jahren 2002 und 2003 verursacht hatte. Dabei stellten sie fest, dass das Virus SARS-CoV-2 signifikant stärkeren externen Kräften standhalten kann. „Diese Erkenntnis erklärt, warum SARS-CoV-2 – im Gegensatz zu SARS-CoV-1 – auch die oberen Atemwege befallen kann, wo turbulente Luftströme größere Kräfte erzeugen als in den Tiefen der Lunge“, sagt Jan Lipfert, Co-Autor des im Fachjournal PNAS veröffentlichten Artikels und seit Kurzem Professor in Utrecht. Es wird vermutet, schreiben die Autoren, dass dieser Unterschied zum sehr unterschiedlichen Verlauf der Epidemie 2002/03 und der aktuellen Pandemie beigetragen hat. Da SARS-CoV-1 vor allem die tiefe Lunge befiel, wurden die Patienten schneller schwer krank, was es aber einfacher machte, sie zu isolieren und damit die Verbreitung des Virus zu stoppen.

Simulationen im Supercomputer

Um die verschiedenen Kraftstabilitäten im Detail auf molekularer Ebene zu verstehen, arbeiteten die LMU-Forscher mit der Gruppe von Prof. Rafael Bernardi an der University of Auburn in den USA zusammen. Dessen Team nutzte die Münchner Messungen für sogenannte Molekulardynamik-Simulationen in einem Supercomputer. Damit konnten die Forscher genau nachvollziehen, welche Abschnitte der Proteine dazu beitragen, SARS-CoV-2 stabiler zu machen als SARS-CoV-1.

Die Biophysikerinnen und Biophysiker der LMU konnten außerdem zeigen, dass mit ihrem Assay untersucht werden kann, wie bestimmte Substanzen die Bindung des Coronavirus an ACE2 unterbinden können. Nach Ansicht der Forschenden macht dies ihre Messmethode zu einem potenziellen Werkzeug, um zum Beispiel neutralisierende Antikörper zu untersuchen.

Ihr Hauptaugenmerk gilt aber aktuell den neuen Varianten des Virus. Erste noch unveröffentlichte Ergebnisse zeigen, dass die unterschiedlichen Varianten verschiedene Kraftstabilitäten haben, so ist zum Beispiel die englische oder Alpha-Variante noch stabiler als der ursprüngliche Wildtyp von SARS-CoV-2. „Es ist möglich, dass sich die Omikron-Variante auf eine ähnliche Weise weiterentwickelt wie schon die ursprüngliche Version von SARS-CoV-2 im Vergleich zu SARS-CoV-1. Auch bei Omikron gibt es erste Hinweise, dass es die tiefe Lunge weniger schnell befällt und damit weniger schwere Erkrankungen auslöst, aber offensichtlich leichter übertragbar ist“, sagt Sophia Gruber. Die Hoffnung der LMU-Forschenden ist, mit ihrer Methode solche Effekte im Detail zu verstehen und in Zukunft vielleicht sogar für neue Varianten vorhersagen zu können.

Magnus S. Bauer, Sophia Gruber, Adina Hausch, Priscila S.F.C. Gomes, Lukas F. Milles, Thomas Nicolaus, Leonard C. Schendel, Pilar López Navajas, Erik Procko, Daniel Lietha, Marcelo C.R. Melo, Rafael C. Bernardi, Hermann E. Gaub, und Jan Lipfert: A Tethered Ligand Assay to Probe SARS-CoV-2:ACE2 Interactions. PNAS, 2022

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