Corona-Krise - Kinder und Jugendliche im Ausnahmezustand
06.05.2020
LMU-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu den bisweilen dramatischen Folgen des Lockdowns für die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft und zu möglichen Chancen beim Neustart.
Wie sieht der angemessene Weg aus dem Lockdown aus? Welche Lockerungen können wir uns als Gesellschaft erlauben und welche noch nicht? Der politische Streit darum nimmt an Schärfe zu. Und viel diskutiert ist dabei auch die Frage, wann und unter welchen Bedingungen vertretbar ist, Schulen und später auch Kitas wieder zu öffnen.
Zu einer angemessenen Abwägung gehört es nicht nur, die Risiken einer Öffnung zu beleuchten, sondern auch die Nebenwirkungen, die eine Schließung mit sich bringt. Damit kommt neben den epidemiolologischen und den rein praktischen Fragen einer möglichen Öffnung auch eine Reihe von Themen in den Blick, die in der Diskussion um den Umgang mit der Pandemie bislang zu kurz kamen: Was bedeuten der weitgehende Ausfall von Kinderbetreuung und Präsenz-Unterricht für Kinder und Jugendliche sowie deren Familien? Was kostet sie die erzwungene soziale Distanz? Auf welche Weise verstärkt die Corona-Krise die sozialen Schieflagen im Bildungssystem? Wo ist der Handlungsbedarf am dringendsten? Welche Chancen aber auch bietet der Neustart? LMU-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben Auskunft.
Welche sozialen Kosten haben die Schulschließungen?
Ludger Wößmann, Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Bildungsökonomik, an der LMU und Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik: „Die dauerhaften Schulschließungen sind für die betroffenen Kinder und Familien mit zahlreichen sozialen Kosten verbunden, die sich zum Teil auch langfristig auswirken werden.
1. Die ausbleibende Vermittlung von Lerninhalten beeinträchtigt die Entwicklung der kognitiven und motivationalen Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen. Für starke Schülerinnen und Schüler, aber noch mehr für die Schwachen entstehen erhebliche Lücken in der Breite und Tiefe des Kompetenzerwerbs.
2. Die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen wird durch den fehlenden Kontakt mit Mitschülerinnen und Mitschülern sowie den dauerhaften Aufenthalt in zum Teil engen Wohnverhältnissen belastet.
3. Auch für viele Eltern und Familien stellt die häusliche Betreuungssituation eine große psychische Belastung dar, die vielfach dauerhafte Auswirkungen nach sich ziehen dürfte.
4. Die Schulschließungen dürften deutliche negative Effekte auf die Chancengleichheit haben. Während viele Familien die schlimmsten Ausfälle durch Homeschooling abgefangen, findet bei vielen Kindern aus benachteiligten Verhältnissen keinerlei Beschäftigung mit schulischen Inhalten statt.
5. Der eingeschränkte Kompetenzerwerb wird langfristig hohe ökonomische Schäden mit sich bringen. Die Forschung zeigt, dass sich erlernte Kompetenzen, Fähigkeiten und Wissen später am Arbeitsmarkt und im langfristigen volkswirtschaftlichen Wachstum auszahlen.
6. Während der häuslichen Betreuung stehen Eltern betreuungspflichtiger Kinder dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung.
Um die sozialen Kosten für Kinder und Familien abzumildern, werden dringend Konzepte benötigt, wie Wissensvermittlung und Lernkontrolle dauerhaft sichergestellt werden können.“
90 Ökonominnen und Ökonomen haben den Aufruf „Bildung ermöglichen!“ gestartet. Ludger Wößmann gehört zu den Initiatoren.
Was bedeutet die Isolation über viele Wochen für Entwicklung und soziales Lernen?
Markus Paulus, Inhaber des Lehrstuhls für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie II: „Das hängt stark davon ab, wie alt das Kind ist. Zweijährige Kinder lernen zwar miteinander zu interagieren und sammeln wichtige soziale Erfahrungen, allerdings sind dies keine festen Freundschaften. In der Kita spielen sie eher nebeneinander her. Hier ist eine Sorge, dass manchen Kindern die Wiedereingewöhnung schwer fallen könnte. Schwieriger ist es für ältere Kinder, die schon Freunde haben, mit denen sie sich austauschen. Und im Jugendalter ist das Freundesumfeld ganz besonders wichtig. Das ist die Zeit der Entwicklung von Autonomie, die Jugendlichen bilden eine eigene Identität aus, gehen vielleicht auch in Widerspruch zu bestimmten elterlichen Vorstellungen. Insgesamt stellt dies eine besondere Herausforderung dar, in der vieles von der familiären Situation abhängt, zum Beispiel davon, ob Geschwisterkinder vorhanden sind und ob die Eltern selbst genug Ressourcen haben, verständnisvoll mit den Frustrationen der Kinder umzugehen.
Was die kognitive Entwicklung anbelangt: Der Kindergarten bietet viele pädagogische Angebote, fördert die Kinder, auch in der sprachlichen Entwicklung. Fällt das alles weg, hängt es auch hier von der familiären Situation ab. Falls die Eltern viel auffangen können, Zeit und Ressourcen haben, mit den Kindern zu lesen, zu spielen, spielerisch zu lernen, ist dies in geringerem Grade problematisch. In einer Familie, die weniger sozio-ökonomisch abgesichert ist, die Eltern keine Muttersprachler sind oder als Alleinerziehende zeitlich besonders stark eingespannt sind, profitiert ein Kind um so mehr von der Förderung im Kindergarten. Jetzt in der Corona-Krise, in der die Familien auf sich selbst zurückgeworfen sind, treten solche Unterschiede besonders stark zutage.
Es hängt also in dieser Zeit viel an der Unterstützung durch das Elternhaus und daran, wie sehr die Familien durch die Ausnahmesituation gestresst sind. Der Druck auf die Familien ist ja groß. Nur ein kleines Beispiel, das aber einiges aussagt: Einer laufenden Umfragen zufolge, die wir gerade durchführen, ist der Anteil der Eltern, die ihren Kindern in der Corona-Zeit die Möglichkeit gibt, sich trotz des Verbots mit Nachbarskindern zu treffen, erheblich. Wir untersuchen auch, wie stark die Familien und vor allem die Kinder in der Coronazeit belastet sind. Wir suchen dafür Eltern, die bereit sind, uns darüber jetzt und noch einmal in ein paar Wochen Auskunft zu geben.“