Ein deutschlandweites Netzwerk, eine Handvoll Zentren, eines davon in München: Was hat das Bundesforschungsministerium (BMBF) da vor gut zehn Jahren unter dem Bernstein-Label vorangetrieben?Herz: Es war die Idee, einen viel versprechenden Bereich der Neurowissenschaften zu fördern, indem man das Geld nicht flächendeckend über das Land verteilt, sondern Schwerpunkte etabliert. Interdisziplinäre Zentren sollten entstehen, die eine Brücke schlagen von der Grundlagenforschung bis hin zur Klinik oder Ingenieursbranche. Denn schließlich ist das BMBF ja nicht nur an der Grundlagenforschung interessiert, sondern eben vor allem auch an Anwendungen. Dabei ist Computational Neuroscience per se ein sehr interdisziplinär angelegtes Konzept, der Versuch, mit Hilfe von Mathematik, Physik, Computerwissenschaften, Biologie und Psychologie das Gehirn besser zu verstehen.
Was versteht man überhaupt unter Computational Neuroscience? Die gängige direkte Übersetzung „rechnergestützte Neurowissenschaft“ greift ja zu kurz. Herz: In der Tat. Computational Neuroscience will mehr. Es geht dabei vor allem um den Kreislauf von Theoriebildung und experimenteller Überprüfung: Mit der gemeinsamen Kompetenz von Naturwissenschaftlern, Medizinern, Psychologen, Informatikern und Ingenieuren wird es möglich, Hypothesen in mathematische Formeln zu fassen, die man im Rechner simulieren und deren Konsequenzen man im Labor überprüfen kann. Computersimulationen sind gleichsam eine moderne Form von Gedankenexperimenten, mit denen wir Stück für Stück weiterkommen beim Verständnis des Gehirns, der wohl komplexesten Struktur, die man sich vorstellen kann.
Aber noch einmal zurück zur Ausgangslage: Reagierte das BMBF zu dieser Zeit bereits auf einen Rückstand gegenüber den USA? Herz: Der damals junge Forschungszweig war an verschiedenen Standorten in den USA bereits stark am Kommen. Aber auch in Deutschland gab es schon einzelne Vorreiter. Das Ministerium organisierte also einige Workshops, die das Themenfeld sondieren sollten, und dann einen Wettbewerb. 18 Orte bewarben sich, ein international besetztes Expertengremium wählte vier davon aus, darunter München. Jeder Ort musste sich, das war eine der Voraussetzungen, ein übergreifendes Thema setzen, in München zum Beispiel geht es darum, wie Raum und Zeit vom Gehirn kodiert werden. Dieses Wettbewerbsverfahren zur Schwerpunkt- und damit Profilbildung hat das BMBF ja auch später in der Exzellenzinitiative in großem Stil erfolgreich eingesetzt.
Das BMBF hat sich eine langfristige Strukturhilfe zum Ziel gesetzt. Wie sah die aus? Herz: Über zwei Förderperioden hat das BMBF rund 200 Millionen Euro in den neuen Forschungszweig gesteckt. Im Laufe der Zeit sind neben den Zentren eine ganze Reihe weiterer Knotenpunkte in dem Netzwerk entstanden, bis hin zu transatlantischen Partnerschaften und Industriekooperationen. Die Zentren selbst sind jeweils Verbünde mehrerer Einrichtungen, in München sind die LMU, die Technische Universität München und das Max-Planck-Institut für Neurobiologie beteiligt, mit dabei sind auch Industrieunternehmen wie MED-EL, einer der weltweit größten Hersteller von Cochlea-Implantaten sowie npi Electronics. Zum Aufbau des Zentrums haben auf Seiten der LMU neben dem Neurobiologen Benedikt Grothe maßgeblich die beiden Neurologen Thomas Brandt und Ulrich Büttner beigetragen. Ich selbst kam erst 2007 an die LMU, zuvor war ich Sprecher des Berliner Bernstein-Zentrums. Heute hat das Münchner Zentrum gut 30 Principal Investigators, knapp 20 davon an der LMU. An jedem der Zentren förderte das BMBF mehrere Professuren, an der LMU sind es die von Christian Leibold und Anton Sirota.
Welchen Einfluss hat das Zentrum auf die Münchner Neurowissenschaften? Herz: Es integriert komplementäre Felder und hat neue Forschungsstrukturen iniitiert: So war das Bernstein-Zentrum wichtig, um das Munich Center for NeuroSciences (MCN) auf den Weg zu bringen, oder auch die Graduate School of Systemic Neurosciences (GSN), die über zwei Runden in der Exzellenzinitiative erfolgreich war und europaweit Modellcharakter hat.
Worum geht es thematisch? Herz: Was uns primär bewegt, ist die Raumkognition. Wie schaffen es Tiere, sich in räumlichen Umgebungen zu bewegen, zu navigieren? Wie verknüpfen wir dann Gedächtnisinhalte mit diesen räumlichen Informationen? Das sind die Fragen, die unter anderem Anton Sirota mit neurobiologischen Experimenten, Stefan Glasauer mit Psychophysik und Bildgebung oder Christian Leibold mit mathematischen Modellen und Computersimulationen untersuchen. Benedikt Grothe und Leo van Hemmen, zwei Gründungsväter des Bernstein-Zentrums München, arbeiten zusammen mit Werner Hemmert, Harald Luksch, Bernhard Seeber, Lutz Wiegrebe und anderen Kollegen am binauralen Hören. Auch das ist eine Raum-Zeit-Frage. Denn Schallquellen lokalisieren wir, indem wir die Informationen zeitlich auflösen.
Welche Arbeitsphilosophie verfolgt das Zentrum? Herz: Wir fragen uns zum Beispiel, warum verschiedene Typen von Nervenzellen ganz unterschiedliche Antworteigenschaften haben. Sogenannte Sternzellen zeigen auch im Ruhezustand schon ein leicht oszillierendes Membranpotenzial, Pyramidenzellen, der Haupttyp im Cortex, tun das nicht. Wir haben uns dann mit Experimentatoren zusammengesetzt. Sie haben Versuche in Schnittpräparaten durchgeführt, die die Vorhersagen der Modelle direkt testeten. Mit ihren Ergebnissen konnten wir wiederum die Modelle weiterentwickeln und näher an die Realität bringen. Heute hilft uns das, die Arbeitsweise der sogenannten Gitterzellen zu verstehen, die eine entscheidende Rolle bei der räumlichen Orientierung spielen.
Langsam vortasten von Modell zu Modell, von Detail zu Detail – das klingt nach dem glatten Gegenteil des Human Brain Projects. Das europaweite milliardenschwere Großprojekt hat erst viel Furore gemacht hat und steckt nun in tiefen inhaltlichen Widersprüchen.Herz: Ja, genau. Die Wissenschaftler im Bernstein Netzwerk haben kein von oben vorgegebenes Forschungsziel oder –programm, sondern vollkommene Freiheit darin, die Schwerpunkte so zu setzen, wie sie es für nötig halten. Das könnte auch etwas damit zu tun haben, dass viele von uns aus der Physik kommen und ein gutes Verständnis für Komplexität mitbringen. So erscheint es uns völlig unmöglich, das gesamte Gehirn zu modellieren: Erfolgreiche Modelle komplexer Systeme ähneln Karikaturen, sie heben wichtige Details hervor und vernachlässigen unwichtige Aspekte. Bei biologischen Systemen wissen wir wegen ihrer evolutionären Geschichte jedoch nie, ob ein bestimmtes Merkmal vernachlässigt werden darf. Selbst das kleinste anatomische Detail einer Synapse könnte für deren Funktion wichtig sein. Um herauszufinden, ob das so ist, muss man wissen, welchen Code die durch diese Synapse verbundenen Nervenzellen verwenden. Ein umfassendes Verständnis einzelner Bestandteile des Gehirns setzt also voraus, dass wir das Ge- samtsystem verstehen – und umgekehrt. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz, und so muss jedes Modell Flickwerk bleiben, das im besten Fall faszinierende Teilaspekte beleuchten und spannende neue Experimente stimulieren kann, nie aber der ganzen Realität gerecht wird.
Prof. Dr. Andreas Herz ist Inhaber des Lehrstuhls für Computational Neuroscience an der LMU, Koordinator des Münchner Bernstein-Zentrums und Sprecher des Nationalen Bernstein-Netzwerks für Computational Neuroscience.