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Das große Ganze der Philosophie

15.08.2017

Von der sozialen Ungleichheit bis hin zur erkenntnistheoretischen Herausforderung der Quantenmechanik: An der LMU kommen 700 Vertreter der analytischen Philosophie zusammen.

Es sind drängende gesellschaftliche Fragen, deren sich Philosophen annehmen. Die soziale Ungleichheit gehört dazu, ebenso die Bedeutung von Diversität für gesellschaftliche Entscheidungsprozesse und die Glaubwürdigkeit von Klimasimulationen. Die analytische Philosophie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten einer ungeheuren Vielfalt an Themen geöffnet. Vom 21. bis 26. August bietet der Kongress der Europäischen Gesellschaft für Analytische Philosophie an der LMU eine einzigartige Chance, sich ein Bild von der Breite des Fachs zu machen. Er findet zum ersten Mal in Deutschland statt. 700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt haben sich angemeldet.

Das Interesse der analytischen Philosophie galt zunächst der Sprach- und Wissenschaftsphilosophie. Das hat sich heute grundlegend geändert, bearbeiten analytische Philosophen doch „inzwischen alle Fragestellungen“, sagt Stephan Hartmann, Alexander von Humboldt-Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Wissenschaftstheorie an der LMU, der den Kongress organisiert.

So stehen auf dem Kongressprogramm ebenso Themen der Religionsphilosophie und der Geschichte der Philosophie wie Fragen der angewandten Ethik und sogar der Ästhetik oder der politischen Philosophie. „Viele Philosophen setzen sich mit aktuell relevanten Fragestellungen auseinander“, sagt Stephan Hartmann. „Im Vordergrund steht immer eine systematische Herangehensweise und der Anspruch, Antworten geben zu können.“ Beispiel Diversität: Philosophen fragen danach, wie sich Vielfalt charakterisieren lässt. Und sie suchen nach Antworten darauf, unter welchen Bedingungen und für welche Ziele sie gut ist. „Es zeigt sich auch in formalen Modellen, dass es oft eine gute Sache ist, wenn Vielfalt ins Spiel kommt.“

Zudem gebe es eine Tendenz in der analytischen Philosophie, sich einzelne konkrete Probleme sehr genau anzusehen. Das ist zum Beispiel bei der Klimawissenschaft der Fall. „Der Klimawandel eröffnet Philosophen viele Ansatzpunkte. Sie fragen – rein wissenschaftstheoretisch – nach den Grundlagen bestimmter Klimasimulationen, die sehr komplex sind, aber auch danach, wie sie bewertet werden und wie glaubwürdig ihre Ergebnisse für die Öffentlichkeit sein können.“ Wie wichtig ist es zum Beispiel, dass die Klimawissenschaft mit einer einheitlichen Meinung an die Öffentlichkeit tritt, wenn es darum geht, diese von drängenden Maßnahmen zu überzeugen?

Kein philosophisches Vakuum

Das Beispiel der Klimawissenschaft veranschaulicht, wie interdisziplinär Philosophie heute ausgerichtet ist. Sie ist nicht nur „ein schönes interphilosophisches Feld“, so Hartmann, mit der sich die Wissenschaftsphilosophie, die Erkenntnistheorie wie auch die Sozialphilosophie und die politische Philosophie beschäftigt. Es zeigt auch, wie sehr sich die Philosophie mit anderen Disziplinen vernetzt. „Die analytische Philosophie zeichnet sich durch eine sehr große Aufgeschlossenheit gegenüber natur- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen aus. Philosophische Theorien müssen dabei anschlussfähig an wissenschaftliche Fragestellungen sein. Es ist oft gut, wenn Philosophen nicht allein im philosophischen Vakuum operieren und mit reinem Denken alles klären wollen.“

Stephan Hartmann selbst, der nicht nur Philosoph, sondern auch Physiker ist, sucht am Munich Center for Mathematical Philosophy mit mathematischen Methoden nach Antworten auf philosophische Fragestellungen. Zudem arbeitet er unter anderem mit der Psychologin und Anneliese Maier-Preisträgerin Ulrike Hahn von der Birkbeck University of London zusammen. Sie ist Expertin für die Psychologie des Denkens, Entscheidens und Urteilens und führt kognitionswissenschaftliche Experimente durch. Gemeinsam ist der Psychologin und dem Philosophen das Interesse an individueller und kollektiver Rationalität. Auch die Philosophie der Neurowissenschaften ist einer der Bereiche, „auf dem gerade sehr viel passiert, an der LMU zum Beispiel in engem Austausch mit dem Munich Center for NeuroSciences (MCN) und der Graduate School of Systemic Neurosciences (GSN)“, so Hartmann. Entsprechend stark ist das Thema auf dem Kongress vertreten.

Eine traditionell wichtige Rolle kommt im Fach wie auch auf dem Kongress der Philosophie der Sprache und der Wissenschaftsphilosophie zu. „In der Wissenschaftsphilosophie ist es heute Konsens, dass man über Wissenschaft im Allgemeinen gar nicht mehr so viel sagen kann, weil die einzelnen Disziplinen so divers sind. Philosophien der Biologie oder der Physik beschäftigten sich inzwischen mit ganz konkreten Fragen, die sich aus der Praxis der Fächer ergeben.“ So arbeiten etwa Philosophen und Physiker eng auf dem Gebiet der Grundlagen der Quantenmechanik und der Quanteninformationstheorie zusammen. „Sie fragen zum Beispiel danach, was den ‚speedup’ von Quantencomputern erklärt und ob quantenmechanische Wahrscheinlichkeiten objektiv oder subjektiv sind.“ Fächerübergreifend relevant sei dagegen die Frage nach den Werten und ihrer Rolle in der Wissenschaft, etwa bei der Auswahl von Themen und der Akzeptanz bestimmter Fragestellungen.

Von den Fundamenten alles Seins

Die zweitstärkste Sektion des Kongresses ist die Metaphysik, deren Vertreter sich mit den Grundlagen des Seins beschäftigen. Dabei konnten die Gründer der analytischen Philosophie im sogenannten Wiener Kreis Anfang des vergangenen Jahrhunderts wenig damit anfangen. „Sie waren der Metaphysik gegenüber abgeneigt, ja feindselig gegenüber eingestellt, da ihre Aussagen empirisch nicht nachprüfbar seien. Da ist die Haltung heute ganz anders“, sagt Hartmann.

Möglich, dass das Fach letztlich von der Vielfalt der Geschichte Europas profitiert. Dabei hat es Jahrzehnte gedauert, bis die analytische Philosophie in Europa überhaupt wieder eine wesentliche Rolle spielte: „Viele der logischen Empiristen des Wiener Kreis waren jüdisch und mussten in der Nazizeit nach Amerika fliehen, wo die analytische Philosophie dann zum Blühen kam.“ Erst in den 1960er-Jahren kam sie langsam wieder nach (Kontinental-)Europa zurück. „Wolfgang Stegmüller, mein Vorvorgänger, hat viel dafür getan hat, sie zurückzuholen. Anfangs haben sich die Philosophen noch sehr an Amerika orientiert und rezipiert, was dort gemacht wurde. Inzwischen ist die analytische Philosophie aber in vielen Teilen von Europa sehr stark und insgesamt sehr vielseitig. Sie hat sich auch zunehmend von Amerika emanzipiert.“

Zum Kongress werden auch viele Philosophen aus den USA erwartet. Zu den herausragendsten Vertretern des Fachs im Bereich der Sozialphilosophie und Politischen Philosophie gehört Kwame Anthony Appiah von der New York University. Er wird einen der beiden öffentlichen Abendvorträge auf dem Kongress halten und dabei über politische Gleichheit reden.

Stephan Hartmann sieht als besonderen Wert des Kongresses, dass er Möglichkeiten zum interphilosophischen und interdisziplinären Austausch auch über die Ländergrenzen hinweg eröffnet. „Es gibt in der analytischen Philosophie nicht die eine Grundlagendisziplin – für die manche vielleicht die Sprachphilosophie oder die Metaphysik halten“, sagt Stephan Hartmann. „Für mich scheint sie mehr ein großes Ganzes zu sein – mit vielen Verbindungen und das kann bei einem so großen Kongress auch ausgespielt werden.“

Eine Teilnahme am Kongress ist möglich. Mehr Informationen zum Programm und der Anmeldung Für Philosophinnen wird auf dem Kongress ein sogenannter Women‘s Caucus angeboten, um sie zum Beispiel beim Netzwerken zu unterstützen. Für Nachwuchsforschende gibt es ein „ Graduate Student Gathering “. Es soll jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf dem Kongress Möglichkeiten bieten, zusammenzukommen und eine Community zu schaffen.

Mehr Informationen : Kongress der Europäischen Gesellschaft für Analytische Philosophie

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