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Das Los der Jüngsten

10.08.2015

Kinder, die erst kurz vor dem Stichtag der Einschulung sechs werden, bekommen häufiger die Diagnose ADHS als ihre älteren Klassenkameraden.

Morgen, am 12. August, gehen in Nordrhein-Westfalen die Sommerferien zu Ende. Dann packen im größten Bundesland auch Fünfjährige zum ersten Mal ihre Ranzen. Diese Kinder werden erst nach dem ersten Schultag sechs Jahre alt, allerdings vor dem 30. September, dem Stichtag für die Einschulung. Auch in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg und Niedersachsen werden in den nächsten Wochen Fünfjährige eingeschult.

Wenige Wochen oder Tage zwischen Geburtstag und Stichtag können jedoch gravierende Konsequenzen haben: Kinder, die im Monat vor dem Stichtag geboren wurden und daher bei der Einschulung sehr jung sind, erhalten häufiger eine ADHS-Diagnose – und eine medikamentöse Therapie – als jene Kinder, die im Monat nach diesem Stichtag geboren wurden und daher im Regelfall bei der Einschulung beinahe ein Jahr älter sind als die jüngsten. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler der LMU und des Versorgungsatlas, einer Einrichtung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung. Die Studie ist unter versorgungsatlas.de verfügbar.

Die Forscher haben dafür erstmals bundesweite und kassenübergreifende ärztliche Abrechnungs- und Arzneiverordnungsdaten von rund sieben Millionen Kindern und Jugendlichen zwischen vier und 14 Jahren aus den Jahren 2008 bis 2011 analysiert. Das Resultat: Von den jüngeren Kindern, die im Monat vor dem Stichtag geboren sind, erhielten im Schnitt im Laufe der nächsten Jahre 5,3 Prozent eine ADHS-Diagnose, bei den älteren Kindern, die im Monat nach dem Stichtag geboren wurden, lag der Prozentsatz bei 4,3 Prozent. Generell stellten Ärzte die Diagnose bei Jungen häufiger als bei Mädchen. „Die Ergebnisse zeigen einen robusten Zusammenhang zwischen der ADHS-Diagnose- und Medikationshäufigkeit und der durch den Geburtsmonat bestimmten relativen Altersposition von Kindern in der Klasse“, erklärt die Erstautorin der Studie, Professor Amelie Wuppermann, die Mikroökonometrie an der LMU lehrt. Auch in anderen Ländern konnten Forscher ähnliche Zusammenhänge nachweisen.

Unter schwierigeren Unterrichtsbedingungen Nicht beantworten können alle diese Studien allerdings die Frage, warum die jüngeren Kinder eines Klassenverbandes mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine ADHS-Diagnose erhalten als ihre älteren Klassenkameraden. Die Forscher vermuten jedoch, dass das Verhalten jüngerer – und damit oft unreiferer – Kinder in einer Klasse mit dem der älteren Kinder verglichen wird. Dann wird deutlich, dass Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit bei den jüngeren ausgeprägter sind – die Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Diagnose steigt, weil das Verhalten im Vergleich zu jenem der älteren Kinder möglicherweise als ADHS interpretiert wird.

Die Studie zeigt auch die Auswirkungen des schulischen Umfelds und der Familiensituation auf die Häufigkeit einer ADHS-Diagnose. Die Ergebnisse geben Hinweise darauf, dass bei größeren Klassen und einem höheren Anteil ausländischer Schüler – was die Unterrichtsbedingungen wahrscheinlich erschwert – der Zusammenhang zwischen relativem Alter und ADHS-Diagnose stärker ist. „Möglicherweise fällt bei schwierigeren Unterrichtsbedingungen die relative Unreife jüngerer Kinder in der Klasse stärker auf“, sagt Dr. med. Jörg Bätzing-Feigenbaum, Seniorautor und Leiter des Versorgungsatlas. Auch ein höherer Bildungshintergrund der Eltern verstärkt den Zusammenhang zwischen relativem Alter und ADHS-Diagnose. Hier vermuten die Wissenschaftler, dass Eltern mit einem höheren Bildungsgrad mehr auf die Förderung ihrer Kinder achten und daher weniger bereit sind, Nachteile in Kauf zu nehmen, die durch die relative Unreife ihrer Kinder entstehen könnten.

„Unsere Studie zeigt, dass die traditionelle Einschulungspolitik, bei der die Schulpflicht an gegebene Stichtage geknüpft wird, die Diagnosehäufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern beeinflussen kann. Kinder, die quasi gleich alt sind, haben aufgrund der Einschulungspolitik ein unterschiedlich hohes Risiko, eine ADHS-Diagnose zu bekommen“, schreiben die Forscher. Da eine solche Diagnose stigmatisierend sein und die medikamentöse Therapie von ADHS starke Nebenwirkungen haben kann, sollten die neuen Erkenntnisse sowohl von der Politik als auch von den Ärzten bei der Diagnosestellung beachtet werden, empfehlen die Forscher. In künftigen Studien gelte es zu untersuchen, ob und welche Änderungen in der Einschulungspolitik, etwa eine Flexibilisierung der Schuleingangsphase, den Zusammenhang zwischen relativem Alter in der Klasse und ADHS-Diagnose abmildern kann. VA/LMU

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