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Daten zur Demenz

14.04.2019

Der Informatiker Christian Wachinger arbeitet an künstlicher Intelligenz, um Muster in Gehirnen sichtbar werden zu lassen, die früh auf neurodegenerative Erkrankungen hindeuten.

Aktuell leben weltweit rund 47 Millionen Menschen mit einer Demenz. Bis zum Jahr 2050 werden Prognosen zufolge bereits mehr als 140 Millionen betroffen sein. Neurodegenerative Erkrankungen frühzeitig zu erkennen, wird daher immer wichtiger. Denn nur dann können Therapien den Verlauf zumindest noch verlangsamen. Informatiker bringen hier nun einen neuen Ansatz in die Medizin: Sie wollen mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) Krankheiten wie Alzheimer sehr viel früher diagnostizieren. „Maschinelles Lernen kann Ärzten helfen, Alzheimer anhand von Kernspin-Aufnahmen schon bei ersten Veränderungen im Gehirn zu erkennen“, sagt LMU-Neuroinformatiker Christian Wachinger. „Algorithmen können Zusammenhänge und Muster in den Bilddaten erfassen, die Ärzte schwer mit dem bloßen Auge erkennen können.“ So könnte maschinelles Lernen in der Diagnostik die Grenzen der Medizin verschieben und sie damit von Grund auf verändern. Selbstlernende Systeme könnten bald in der klinischen Praxis zum Einsatz kommen.

Allerdings, und das stellt die Informatik gerade im Bereich der Medizin vor große Herausforderungen, brauchen die Algorithmen große Datenmengen, um präzise zu werden. Das sei ähnlich, wie man es von Go-Programmen kenne: „Programme wie AlphaGo Zero von DeepMind sind auch deshalb so schnell stärker als die besten Go-Spieler geworden, weil sie endlos gegeneinander spielen und so ihre Strategien anhand neuer Spielsituationen verfeinern konnten“, sagt Wachinger, der an der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LMU das Labor für künstliche Intelligenz in der medizinischen Bildgebung leitet. „Im klinischen Bereich brauchen wir bei jeder Fragestellung tausende Datensätze von Patienten, um die Systeme gezielt trainieren zu können.“

Solch große Datenmengen fallen in der Regel nicht in einzelnen Kliniken an. Daher bildeten sich in jüngster Zeit internationale Forschungskooperationen, die auf eigens geschaffene spezialisierte Datenbanken wie die amerikanische Alzheimer-Datenbank ADNI zurückgreifen können. Forscher haben dort rund 2000 Personen erfasst, die regelmäßig ihr Gehirn mit bildgebenden Verfahren wie MRT (Kernspin) oder PET (Positronen-Emissions-Tomographie) untersuchen oder auch ihr Genom sequenzieren lassen. Der Großteil der Probanden leidet an Gedächtnisstörungen, es kommen aber auch gesunde Menschen in die beteiligten Kliniken.

Mit großer Treffsicherheit „Für uns Informatiker sind solche medizinischen Datenbanken sehr wertvoll“, sagt Wachinger. Mithilfe von mehr als 6000 Gehirnaufnahmen hat er seine Algorithmen trainiert. Jede Person wird dabei als hochdimensionaler Vektor dargestellt, der alle relevanten Daten wie Alter, medizinische Details oder sogar genetische Marker erfassen kann. In der Trainingsphase nutzen die Algorithmen codierte MRT-Bilddaten. Die Lern-Algorithmen sind dabei wie übereinander geschichtete neuronale Netze aufgebaut. Die verschiedenen Ebenen sind darauf spezialisiert, bestimmte Eigenschaften eines digitalen Bildes zu erkennen, Formen, Muster, sogar Krümmungen. Jeder Knoten des Netzes ist vielfach mit anderen Knoten und anderen Schichten verknüpft. Die Verknüpfungen passt das System während des Lernprozesses analog zum Gehirn an die eigenen „Erfahrungen“ an. Die Algorithmen treffen dann im Idealfall immer bessere Vorhersagen wie etwa genaue Krankheitsdiagnosen.

Wachingers Algorithmen können mittlerweile mit großer Treffsicherheit gesunde Menschen von Patienten mit Diagnosen, die von leichter kognitiver Beeinträchtigung über vaskuläre Demenz bis hin zu Alzheimer reichen, unterscheiden. Sie können auch zeitliche Vorhersagen machen, darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit jemand in sechs oder 12 Monaten an Alzheimer erkranken.

Entscheidend für den Erfolg der Vorhersage ist die richtige Wahl von sogenannten Biomarkern, also von Besonderheiten in den Bildinformationen, die auf Krankheiten hinweisen. Dickemessungen am Cortex kämen hier genauso in Frage wie Formanalysen der Gehirnwindungen. Letzteres ist ein völlig neuer Ansatz. Die räumliche Geometrie lässt sich dabei über Schwingungsmuster darstellen, die verschiedene Resonanzfrequenzen auslösen. Veränderungen in der Form können sehr früh auf Abbauprozesse im Gehirn hindeuten. Dies ist hilfreich für die Früherkennung von Demenzen um die Genauigkeit und die Geschwindigkeit der Vorhersage zu erhöhen.

Wachinger kann anhand des neuen Ansatzes zur Formanalyse spezieller Gehirnregionen zeigen, dass sich bei Alzheimer Hirnstrukturen wie Hippocampus (zuständig für das Erinnerungsvermögen und die emotionale Verarbeitung) und Amygdala in beiden Gehirnhälften asymmetrisch verändern. Je weiter die Demenz vorangeschritten war, umso größer war die Asymmetrie. Am geringsten war sie bei der Vergleichsgruppe gesunder Menschen. „Die festgestellte Asymmetrie in den Hirnstrukturen könnte im frühen Stadium ein Biomarker für Alzheimer sein“, sagt Wachinger.

Diagnose in 15 Sekunden Allerdings sei es nicht eben trivial, das Gehirn anhand der Scans in sauber getrennte Gehirnregionen zu unterteilen. „Auf dem Bild sind das ja alles mehr oder weniger graue Bildpunkte.“ Wachinger verwendet selbstlernende System der Segmentierung, um die verschiedene Gehirnregionen digital sauber voneinander zu trennen. Die über zehn Millionen Bildpunkte eines MRT-Gehirnscans werden dabei in rund hundert wichtige Volumeninformationen umgewandelt. In dieses Komprimieren der Informationen stecken die Forscher sehr viel medizinisches und technisches Detailwissen, es ist das Kernstück der Technologie. „Als Informatiker komme ich zwar eher aus der Methodenecke“, sagt Wachinger. „Aber es ist toll, wenn man als Techniker im medizinischen Bereich Impulse geben und Menschen helfen kann.“

Das auf neuronalen Netzen basierende Verfahren baut auf existierender Software auf wie „FreeSurfer“ aus dem Harvard-Umfeld, wo Wachinger als Postdoc am MIT (Massachusetts Institute of Technology) und der Harvard Medical School arbeitete. Der Neuroinformatiker entwickelte aber nun mit dem Anfang 2019 veröffentlichten Algorithmus „QuickNAT“ eine Technologie, die die Segmentierung und anschließende Volumenmessung innerhalb von 15 Sekunden schafft. So schnell, dass ein Arzt die Diagnose des Algorithmus erhalten könnte, während ein Patient noch im MRT-Gerät liegt. „Das Verfahren könnte man schnell in den klinischen Alltag einbauen. Wie bei einem Bluttest bekäme ein Arzt sozusagen Labordaten, eine Art Normwert aus dem Gehirn“, sagt Wachinger. „Die Entscheidung, was er mit der Information anfängt, bleibt dabei beim Arzt.“ Um die Benutzerfreundlichkeit zu erhöhen, entwickelte Wachinger einen eigenen Web-Service für Ärzte (http://quicknat.ai-med.de). Mediziner können dort MRT-Bilder hochladen und auswerten.

Trotz solcher Fortschritte warnt der Informatiker davor, die Aussagen der Algorithmen als absolute Größen zu nehmen. „Wir können mit unseren Methoden immer nur Wahrscheinlichkeiten liefern, deshalb geben wir als wichtige Größe auch immer die Unsicherheit des Verfahrens mit an. Die Entscheidung über die Behandlung“, betont Wachinger noch einmal, „bleibt bei den Ärzten.“ Warum Alzheimer-Patienten offenbar in Regionen wie Amgydala, Putamen oder Hippocampus asymmetrisch Gehirnsubstanz verlieren, ist bislang unklar.

„Andrang wie auf einem Rockkonzert“ Um mögliche Ursachen für die Asymmetrie zu bestimmen, hat ein Team um Wachinger jüngst genetische Daten aus sogenannten SNPs analysiert. Solche Single Nucleotide Polymorphisms, genetische Varianten in nur einzelnen DNA-Bausteinen, sind in vielen KI-Ansätzen in der Medizin mittlerweile Lernstoff für die Algorithmen. Einige der SNPs jedenfalls beeinflussen offenbar das Risiko für bestimmte neurodegenerative Erkrankungen. Den Informatikern gelang es, zwei neue, bislang unbekannte Gen-Schnipsel mit den Asymmetrien im Gehirn in Verbindung zu bringen. Wachingers Erkenntnisse könnten ein Impuls für Biomediziner sein, hier nach Ursachen zu forschen.

Trotz all der Euphorie bremst Wachinger die Erwartungen. „Wir müssen anhand der Flut von Veröffentlichungen auch skeptisch bleiben, wie gut die KI-Methoden jeweils wirklich sind“, sagt er. Fast belustigt erzählt er vom aktuellen Boom der Technologie, an dem jeder Anteil haben wolle. So sei die vergangene Hauptkonferenz NIPS für neuronale Informationsverarbeitung im kanadischen Montreal innerhalb von elf Minuten ausgebucht gewesen. „Das ist ein Andrang wie bei einem Rockkonzert“, sagt Wachinger. „Das ganze Feld ist am Explodieren. Da ist es schon schwer, das Relevante vom Irrelevanten zu unterscheiden.“

Gleichzeitig aber bleibt das Potenzial enorm. Die Algorithmen seien für verschiedene Krankheiten wie Autismus, Diabetes oder psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen trainierbar, so Wachinger. „Wir brauchen nur große Datenmengen, gute Daten und gute Biomarker, bei Diabetes etwa Aufnahmen von Leber und Niere.“ Erste Kontakte zur UK Biobank in England, die hochaufgelöste Ganzkörper-MRT von 100.000 Personen sammelt, oder der deutschen Langzeitgesundheitsstudie „Nationale Kohorte“ gibt es bereits – es ist ein weiteres Einsatzgebiet für Wachingers Algorithmen.Hubert Filser

Dr. Christian Wachinger leitet das Labor für künstliche Intelligenz in der medizinischen Bildgebung (www.AI-Med.de) an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LMU, das durch das Zentrum Digitalisierung Bayern gefördert wird. Wachinger, Jahrgang 1982, studierte Informatik an der Technischen Universität München, wo er auch promoviert wurde. Postdoktorand war er in der Medical Vision Group des Computer Science and Artificial Intelligence Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Cambridge, USA, und am Lab for Computational Neuroimaging an der Harvard Medical School, Boston, USA.

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