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„Der Holocaust ist noch längst nicht ausgeforscht“

10.10.2017

Dr. Kim Wünschmann besetzt seit September die Schnittstelle zwischen dem Lehrstuhl für Zeitgeschichte der LMU und dem Zentrum für Holocaust-Studien am IfZ. Ziel: Das Thema in Forschung und Lehre fester zu verankern.

Nationalsozialismus? Das Feld ist doch längst ausgeforscht! 70 Jahre nach dem Holocaust hören Historikerinnen und Historiker immer wieder solche Sätze. Diesem Missverständnis entgegenzuwirken, ist ein wichtiges Anliegen von Dr. Kim Wünschmann – auch und gerade bei Studierenden, die das Thema auf den ersten Blick nicht so interessant finden mögen. „Empirische Daten müssen stärker systematisch ausgearbeitet, neu befragt und innovativ interpretiert werden“, erklärt sie. Außerdem soll die Geschichte um neue Fragestellungen, beispielsweise den geschlechtsspezifischen Zugang, erweitert werden.

Seit September 2017 ist Kim Wünschmann Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der LMU, wo sie Forschung und Lehre zwischen der Universität und dem Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin koordiniert. Nach ihrem Magisterstudium an der Freien Universität Berlin promovierte sie 2012 am Birkbeck College der University of London. Anschießend war sie zu Post-Doc Forschungen an der Hebräischen Universität Jerusalem in Israel und lehrte zuletzt als DAAD-Fachlektorin an der University of Sussex, Großbritannien.

Die LMU belegt bei einer Studie der Freien Universität Berlin zur Lehre über den Holocaust vor allem wegen der engen Verzahnung des Lehrstuhls für Zeitgeschichte mit dem Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte einen Spitzenplatz. Das Zentrum wurde im Sommer 2013 eingerichtet und erhielt im vergangenen Jahr eine dauerhafte Finanzierungszusage von Bund und Ländern. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist unter anderem der Beitrag zur Verankerung des Themas in der universitären Lehre, die durch Wünschmanns Stelle weiter ausgebaut werden soll. Ziel ist es, am Lehrstuhl für Zeitgeschichte eine solide Basis für Forschung und Lehre über den Holocaust zu schaffen und internationale wissenschaftliche Kooperationen voranzutreiben.

Leider herrscht an vielen Universitäten die Meinung vor, dass inzwischen alles aufgearbeitet wäre. „Das ist aber eine Fehleinschätzung“, sagt Wünschmann und verweist auf die Studie der Freien Universität Berlin. Man müsse sich nicht nur Wissen aneignen, sondern auch stärker darüber diskutieren – gerade in Zeiten, in denen simplifizierende nationalistische Weltbilder Konjunktur haben. „Ich sehe meine Stelle als eine wichtige wissenschaftspolitische Entscheidung, der Vernachlässigung des Themas nachhaltig entgegenzuwirken und neue Akzente zu setzen.“

Im Wintersemester starten Wünschmann, Professor Frank Bajohr und Dr. Andrea Löw vom Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte das Forschungskolloquium „The Holocaust and Its Contexts“. „Das ist mir ein wichtiges Anliegen“, erklärt Wünschmann: „Die Geschichte des Holocaust in größere historische Zusammenhänge einer Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts einzubetten.“ Ein Fellowship-Programm soll viele ausländische Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler nach München bringen. Ab 2018 wird es ein englischsprachiges Jahrbuch geben. Durch Workshops und Summer Schools sollen außerdem gezielt dem wissenschaftlichen Nachwuchs Chancen geboten werden.

„Historisches Wissen über Antisemitismus hilft, die Gegenwart besser zu analysieren“, versichert Wünschmann. Kritisches Denken in der Wissenschaft sei daher eine entscheidende Präventionsmaßnahme einer Demokratie. Für Wünschmann gibt es noch viele Grauzonen, die es auszuleuchten gilt – beispielsweise, was Menschen motiviert hat, anderen zu helfen. „Das Thema Holocaust“, ist sie überzeugt, „ist noch längst nicht ausgeforscht.“

Ein Interview mit Dr. Kim Wünschmann lesen Sie in der neuen MUM, die ab Ende Oktober an den Stummen Verkäufern in den Gebäuden der LMU ausliegt. Oder Sie abonnieren Sie einfach und kostenlos und erhalten sie künftig per Post.

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