Sprache macht nicht an Grenzpfosten Halt. Für Thomas Krefeld, Professor für Romanische Philologie an der LMU, ist sie ein Schlüssel, um kulturgeschichtliche Zusammenhänge zu erkennen. Denn wer den gemeinsamen Ursprung von Wörtern und ihre Verbreitung kennt, erfährt viel über historische Begebenheiten. Im Projekt „VerbaAlpina – Der alpine Kulturraum im Spiegel seiner Mehrsprachigkeit“ konzentriert sich Thomas Krefeld auf den Wortschatz der Alpen. „Der Alpenraum ist eine der wenigen Gegenden Europas, in der die drei großen Sprachfamilien zusammenkommen und man die sprachliche Entwicklung in großer historischer Perspektive verfolgen kann“, sagt Krefeld. Im Rahmen des Projekts werden Variationen in den Dialekten aller Sprachen des Alpenraums – Deutsch, Französisch, Italienisch, Bündnerromanisch, Ladinisch, Friaulisch und Slowenisch erfasst. Dafür wurde in Zusammenarbeit mit der IT-Gruppe Geisteswissenschaften unter der Leitung von Dr. Stephan Lücke die virtuelle Forschungsumgebung VerbaAlpina entwickelt.
Nachdem in einem ersten Schritt bereits vorhandene Sprachatlanten und Wörterbücher systematisch erfasst und in die Datenbank von VerbaAlpina integriert wurden, startete diesen Februar eine erste Online-Umfrage, die sich an Dialekt-Sprecherinnen und -Sprecher richtet. An der Umfrage kann jeder teilnehmen, der aus den Alpen stammt und den örtlichen Dialekt beherrscht. Bislang sind bereits 4000 Beiträge zum Wortschatz der Alm- und Viehwirtschaft eingegangen, die derzeit ausgewertet werden.
„Oft ist der gemeinsame Ursprung von Wörtern aus unterschiedlichen Sprachen und Dialekten erkennbar“, sagt Christina Mutter, Koordinatorin des Projekts: Gemeinsame Worttypen lassen sich erkennen. Ziel ist es, Dialektwörter auf Gemeindeebene zu referenzieren – was im Internet mithilfe einer interaktiven Karte anschaulich dargestellt wird. So können die Forscher untersuchen, welche charakteristischen Bezeichnungen Dialekte über die Sprachgrenzen hinaus verbinden und dadurch Rückschlüsse auf die ethnographischen „Landschaften“ der Alpen ziehen. Die Eingliederung ins Römische Reich etwa lässt sich noch heute im Vokabular des Alpenraums erkennen. „Wörter wie Senn oder Staffel sind aus der Romanisierung des Alpenraums übriggeblieben. Manche Wörter haben Eingang in die Hochsprache gefunden – wie Käse, das vom lateinischen caseus stammt“, sagt Krefeld. Allein für Käse weist VerbaAlpina inzwischen zahlreiche im Alpenraum gebräuchliche Wörter auf, die vom bayerischen „Kas“ bis zum ladinischen „Ciajò“ reichen. Auch an den Dialektwörtern für Butter von buarra, pischeda oder paintg in Bündnerromanisch über buri im Piemont bis zu schmals im Ladinischen der Dolomiten lassen sich unterschiedliche Techniken und Akkulturationsprozesse erkennen.
Aus sprachwissenschaftlicher Sicht wird mit dem Projekt die bislang in der Dialektologie vorherrschende Beschränkung auf national(sprachlich)e Grenzen überwunden. Das eröffnet nicht nur die Möglichkeit, die historische Verknüpfung der Alpensprachen herauszuarbeiten, sondern lässt auch Rückschlüsse auf die Alltagswelt und den alpinen Lebenswandel zu verschiedenen Zeiten zu. „Allein der Wortschatz verrät zum Beispiel, dass bereits in prähistorischer Zeit die Alpen oberhalb der Baumgrenze genutzt wurden“, sagt Krefeld.
Die digitale Forschungsumgebung ist auf die nachhaltige Bewahrung der Daten ausgelegt. Inzwischen ist auch die Web-Veröffentlichung über die Universitätsbibliothek recherchierbar. Im Rahmen der Digital Humanities (DH) wird VerbaAlpina zudem künftig auch im Kontext der Lehre genutzt werden. Mehr Informationen dazu unter: http://www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de/