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Die Macht der Narrative: Von Literatur und Utopien

27.06.2023

Ein Interview mit LMU-Alumnus und Autor Ilija Trojanow über Vielfalt, Zugehörigkeit und die Macht von Literatur anlässlich der Initiative „Together@LMU“

Ilija Trojanow

Ilija Trojanow wusste schon als Jugendlicher, dass er Schriftsteller werden will.

Seinen ersten Roman schrieb er im Laufe von zehn Jahren zwischen 18 und 28, abends und am Wochenende. | © Thomas Dorn

LMU-Alumnus Ilija Trojanow ist Schriftsteller, Verleger und Übersetzer, Globetrotter und Geschichtensammler. Er wurde in Bulgarien geboren und ist in Deutschland und Kenia aufgewachsen. Seine Bücher wurden in 31 Sprachen übersetzt. Trojanow hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen für seine literarischen Werke und sein gesellschaftspolitisches Wirken erhalten, darunter den Preis der Leipziger Buchmesse und den Heinrich-Böll-Preis.

Herr Trojanow, Sie studierten in den 1980er-Jahren an der LMU München. Was interessierte Sie im Studium?

Ilija Trojanow: Ich wusste schon früh, dass ich Schriftsteller werden will, aber keiner sagte mir, wie ich da hinkomme. Zuerst studierte ich Philosophie und Volkswirtschaft, weil ich dachte, wir brauchen eine neue Volkswirtschaft. Nach Slavistik und Romanistik schrieb ich mich in Jura ein. Jura war aber auch nicht das, was ich erwartet hatte. Mich interessierten die grundsätzlichen Fragen: Was ist Recht und Gerechtigkeit?

In der Zeit übersetzte und schrieb ich bereits und hatte meinen eigenen Verlag gegründet. Der auf afrikanische Literatur spezialisierte Marino Verlag ist während meines Ethnologie-Studiums, zu dem ich in der Zwischenzeit gewechselt war, richtig ins Laufen gekommen – und auch mein erstes Buch. „Jetzt habe ich den Weg zum Schriftsteller-Dasein gefunden“, dachte ich mir, und habe die Uni verlassen.

Was hat Sie in Ihrer Münchner Zeit geprägt?

Geprägt hat mich vor allem der Hinterhof der Amalienstraße 15, wo ich lebte und auch meinen Verlag hatte. Das war das echte, alte Schwabing. Da war ein Architektur-Büro, ein Künstler, ebenfalls ursprünglich aus Bulgarien – Haralampi Oroschakoff –, eine Bildhauerin, ein pensionierter Arzt mit einer unglaublichen Lebensgeschichte – Tibor Csato –, der im Zweiten Weltkrieg Agent für den britischen Geheimdienst und später Arzt von Londoner Prominenten wie Graham Greene war, und so weiter. Ein sehr interessantes, lebendiges, künstlerisches Milieu. Die Uni und die vielen Buchhandlungen und Antiquariate waren nur wenige Meter entfernt. Das war eine schöne Zeit.

06 Jul

Together@LMU: Zugehörigkeit und Identität – Ilija Trojanow im Gespräch

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In welchen anderen Orten fühlen Sie sich zu Hause? In „Gebrauchsanweisung fürs Reisen“ beschreiben Sie Bombay als einen der aufregendsten Orte der Welt.

Ich fühle mich an vielen Orten sehr wohl, darunter auch Bombay. Aber ich bin diesbezüglich sehr flexibel. Jetzt lebe ich in Wien, hier fühle ich mich auch sehr wohl. Ich war Stadtschreiber in Mainz, und auch dort habe ich mich sehr wohl gefühlt. Heimat, das sind eher die Menschen, die ich liebe, und die Dinge, die mir wichtig sind – und weniger eine bestimmte Lokalität. Mir würde jetzt viel mehr meine Bibliothek abgehen als irgendein bestimmter Ort.

Sie haben in sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten gelebt. Was hat Sie dazu bewogen, das Buch „Kampfabsage“ zu schreiben, das die These des amerikanischen Historikers Samuel Huntington vom Kampf der Kulturen ad absurdum führt?

Ich hatte festgestellt, dass meine Wahrnehmung von Kulturgeschichte überhaupt nicht von den meisten Autoren, Autorinnen und Menschen, die ich traf, geteilt wurde, sondern dass es meist eine Vorstellung von homogener nationalstaatlicher Tradition gab. Gerade in Indien ist das besonders absurd, aber nicht nur dort. Irgendwann dachte ich mir, das Zusammenfließen von Kulturen muss in seiner fluiden Komplexität beschrieben werden.

Entscheidend dafür war das Leben in Indien. 1998, als ich hinzog, war Indien ein Kulturraum, der in keiner Weise den identitätspolitischen Vorstellungen entsprach. Es war ein Raum der Vielfalt, des intensiven Miteinanders und der großen Kenntnis der jeweiligen Ausformungen von Kultur und Religion. Da mein Kollege und Freund Ranjit Hoskote das sehr ähnlich betrachtete, war es naheliegend, zusammen ein Buch zu schreiben.

Haben Sie das Gefühl, mit Themensträngen wie der indischen oder der bulgarischen Geschichte ein Stück weit auch Ihre eigene Vergangenheit weiterzuverarbeiten?

Nein, mich hat das Eigene immer nur als Instrument und als Wahrnehmungsschule interessiert. Ansonsten halte ich nicht viel von Autopoiesis, weil ich neugierig auf anderes bin. Ich habe das Aufwachsen mit verschiedenen Sprachen und verschiedenen Perspektiven als Instrument meiner Recherche und meiner Literatur genutzt.

Ihr neuer Roman erscheint am 30. August 2023. Können Sie uns etwas darüber verraten?

„Tausend und ein Morgen“ ist der waghalsige Versuch, das fast ausgestorbene Genre der Utopie wieder zu beleben – in den letzten 40 Jahren gab es Utopien nur im Bereich Science-Fiction. Es ist der Versuch, Utopie zu schreiben ohne Blaupause. Die Schwäche der utopischen Entwürfe ist oft, dass man zu detailliert und zu dogmatisch die zukünftige bessere Welt durchbuchstabiert. Meine Überlegung war, Fenster und Türen zu einer Vielfalt der Möglichkeiten zu öffnen, ohne den Lesenden alles vorzubeten. Oft sind Utopien so konstruiert, dass jemand aus unserer Welt irgendwo hinreist und dann erstaunt ist über die utopische Welt. Bei mir ist es umgekehrt: Dadurch, dass die Utopie im Mittelpunkt steht, hat sie eine gewisse Selbstverständlichkeit. Eine Gruppe junger Menschen, die „Chronautin“ [Anm. d. Red.: Der feminine Singular fungiert in der utopischen Ebene des Romans als Plural], reisen in die uns bekannte Geschichte zurück, um sie dort zum Besseren zu verändern.

Ilija Trojanow

„Das ist das Wunderbare an Geschichten: Geschichten entstehen immer dialogisch“, sagt Ilija Trojanow. „Sie entstehen dialogisch schon beim Schreiben, aber sie blühen erst auf durch das Lesen, durch das Vorlesen, durch das Diskutieren. Das dialogische Prinzip ist der Literatur eingeschrieben – Literatur ist geteilte Erfahrung.“

© Thomas Dorn

Im Dokumentarfilm „Oasen der Freiheit“ begeben Sie sich auf eine Spurensuche utopischer Ideen an den Rändern Europas, die ebenfalls einer Zeitreise ähnelt. Was sind Voraussetzungen für das Verwirklichen von Realutopien?

Die Kulturwissenschaften haben etwas ausgearbeitet, das man auf Englisch „liminal space“ nennt. Diesem Narrativ zufolge sind die Grenzregionen nicht im toten Winkel der Geschichte. Ganz im Gegenteil: Sie sind entscheidend, weil dort zum einen die Herrschaft von zentralistischen Mächten abnimmt und zum anderen weil es diese Räume gibt, in denen vieles verhandelt werden kann, wo Freiraum ist für Experimente, für Miteinander, für Neuanfänge und Aufbrüche. Da, wo die dominante Macht keinen starken Zugriff hat, kann sich mehr entwickeln. Ansonsten ist das Entscheidende beim Verwirklichen von Utopien, dass man eine Geschichte, ein Narrativ, eine Vision entwickelt, die irgendwann genug Menschen beseelt und sie in ihren Sehnsüchten abholt. Die Abschaffung der Sklaverei oder Gleichberechtigung der Frauen, das waren zuerst völlig utopische Vorstellungen, die aber zunehmend mehrheitsfähig wurden. Die Verwirklichung muss nicht die Mehrheitsfähigkeit abwarten, aber es muss eine gewisse kritische Masse an Begeisterten und Überzeugten vorliegen.

Haben Sie das Gefühl, dass wir uns gerade auf einen solchen Wendepunkt zubewegen?

Ich bin sicher, dass es so ist. Für mich ist es klar, dass es mit diesem kapitalistischen Weltsystem der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und ungerechten Verteilung nicht weitergeht. Das wissen zunehmend mehr Menschen – ich erlebe das bei Veranstaltungen wie der „Global Assembly“ oder meiner Reihe „Der utopische Raum“. Eine wachsende Zahl von Menschen ahnt: Wir brauchen eine intensive Transformation der Gesellschaft zu etwas Neuem. Aber es dauert natürlich, bis diese Ahnung sich in etwas Handfestes übersetzt.

Welche Rolle kann die Literatur in diesem Transformationsprozess spielen?

Das, was wir sind, als Individuum und als Gesellschaft, ist in großen Teilen Folge von Geschichten. Die Art, wie wir auf uns und unser Leben blicken, ist meist narrativ formatiert. Auch unsere gesellschaftlichen Übereinkünfte sind ganz stark narrativ. Das deutsche Grundgesetz fängt mit dem Satz an: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist ein poetisch-philosophischer Satz, der eine völlig fiktive Behauptung darstellt – es gibt keinerlei wissenschaftlichen Beleg dafür. Aber er wurde oft genug formuliert, bis irgendwann, nach dem unglaublichen Horror der Nazizeit, die Menschen sagten: „Ja, das leuchtet uns ein.“ Insofern wüsste ich nichts, was stärker ist als Narrative.

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