Unter welchen Druck geraten demokratische Entscheidungsprozesse in einer beschleunigten Welt? Klaus H. Goetz forscht über die Bedeutung von Zeit in der Politik, die er auch zunehmend mit Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit konfrontiert sieht.
„Wie viel Cash ist noch da?“, will Bryan Marsal wissen. „Gar nichts“, lautet die Antwort. Mit diesem lapidaren Wortwechsel beginnt im September 2008 für den Sanierungsspezialisten Marsal die Arbeit an einem außergewöhnlichen Insolvenzfall: der Investmentbank Lehman Brothers. So jedenfalls erzählt er es ein Jahr später in Interviews. Die Lehman-Pleite weitet sich schnell zu einer Banken- und Finanzkrise von solcher Tragweite aus, dass Politiker innerhalb kürzester Zeit Antworten darauf finden müssen. „Peer Steinbrück, der damals ja Finanzminister war, hat das in der Rückschau sehr deutlich ausgedrückt: Die Weltwirtschaftsordnung stand auf der Kippe“, sagt Klaus H. Goetz, Professor am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU.
Für den Politikwissenschaftler illustriert die Finanzkrise anschaulich, vor welchen Herausforderungen die Politik steht, wenn unvorhergesehene Umstände sie selbst bei hochkomplexen Fragen unter Zeitdruck setzen. „Da wurde im kleinsten Zirkel über Nacht entschieden, und es wurden Aussagen von ungeheurer Tragweite gemacht.“ Diese „Kompression der Zeit“, wenn sehr viel in einem sehr kurzen Zeitraum passiert, sei typisch für Krisen: „Es kommt zu einer Beschleunigung, einer Verdichtung der Ereignisse und einem hohen Maß an Unsicherheit im Hinblick auf die Informationen, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden können und auch über deren Erfolgsaussichten.“
Der Natur nach zeitaufwendig Klaus H. Goetz ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Europäische Integration und beschäftigt sich seit Langem mit der Bedeutung von Zeit in der Politik. Die Folgen der allseits wahrgenommenen Beschleunigung für das politische System hat er bereits in mehreren Publikationen analysiert. „Demokratische Systeme sind ihrer Natur nach zeitaufwendig, weil sie nicht nach dem Befehlsprinzip funktionieren.“ Es dauert, Ziele zu formulieren, um Zustimmung zu werben, Mehrheiten zu gewinnen. „Die Wahrnehmung ist oft, dass die demokratische Politik immer weniger in der Lage ist, ihre Rhythmen an eine beschleunigte technologische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung anzupassen.“ Was droht, sei die „Aushöhlung von demokratischen Partizipationsverfahren“, um Entscheidungen zu beschleunigen. „Ein parlamentarisches Gesetz sollte üblicherweise nicht in fünf Tagen im Bundestag verabschiedet werden, sondern eher in einem halben bis einem Jahr“, sagt Goetz. „Und es sollte dem ein Prozess vorausgehen, in dem die Regierung ihre Absichten präsentiert, mit den Betroffenen über ihre Interessen diskutiert und daraufhin einen Gesetzesentwurf entwickelt, der dann im Bundestag eingebracht wird.“
Wo keine Zeit für solch langwierigen Prozesse ist, besteht die Gefahr, dass Möglichkeiten der Mitsprache und Mitwirkung eingeschränkt werden zugunsten eines „Regierens von oben“ oder durch die Auslagerung von Entscheidungen an „nicht-majoritäre“ Institutionen, die nicht an den Wählerwillen gebunden sind, so wie es bei der Finanzkrise der Fall war. Damals wurde im kleinsten Kreis über Milliardenhilfen an Finanzinstitute entschieden, für die der Steuerzahler aufkommen musste, und umfangreiche Stützungsmaßnahmen beschlossen. „Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, sagte damals: ,Wir werden alles unternehmen, was notwendig ist.‘ Er konnte das tun, weil er sich weder vor einem gewählten Parlament verantworten noch durch vielfältige demokratische Abstimmungsverfahren absichern musste.“
Mit Gespür für das richtige Timing Aber Beschleunigung ist nur ein Aspekt, wenn es um Zeit und Politik geht. Zeit kann auch eine Ressource sein. „Es gibt, und das wissen Politiker natürlich, die Möglichkeit, mit Zeit gestalterisch umzugehen.“ Dazu gehört es zum Beispiel, Fristen vorzugeben, um andere unter Zeitdruck zu setzen. Das bekam jüngst etwa die britische Premierministerin Theresa May im Zuge des Brexit-Abkommens zu spüren. Als es bei den Verhandlungen in einem wesentlichen Punkt nicht voranging, sagte die EU im Oktober kurzerhand einen Sondergipfel ab. Eine andere Methode, Zeit gezielt einzusetzen, ist es, übliche Abfolgen nicht einzuhalten, etwa einen Gesetzesentwurf an die Öffentlichkeit lancieren, um andere zum Reagieren zu zwingen. Auch die Wahl des richtigen Moments gehört zu dieser Kunst, die Zeit geschickt zu instrumentalisieren. „Oft ist es wichtiger, wann man etwas macht, als was man macht“, sagt Goetz.
Geschick für das richtige Timing und den Überraschungsmoment beweist auch Donald Trump. Mit mehr als 39.600 Tweets (Stand Anfang November 2018), in denen er sich mitunter widerspricht, treibt er den politischen Gegner vor sich her. „Trump hält sich offensichtlich nicht an etablierte Regeln. Sein Verhalten ist deswegen schwer vorhersehbar. Ich denke, es mehren sich inzwischen die Anzeichen, dass es sich um Regierungstechnik handelt. Diese Irregularität macht es der Opposition sehr schwer, sich zu organisieren und Gegendruck aufzubauen. Effektiv als Opposition zu arbeiten, setzt ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit beim Agieren der Regierung voraus.“ Dazu kommt, dass bei Trump jede Äußerung, jedes neue Konfliktfeld, das er eröffnet, zum Gegenstand der medialen Beobachtung wird. Dadurch schafft es die Opposition kaum, eigene Themen zu setzen.
Überhaupt, die Medien. Sie tun ihren Teil dazu, den Eindruck zu verstärken, dass sich die Welt und mit ihr die Politik beschleunigt, sagt Goetz. „Wir haben es heute mit einer Medienlandschaft zu tun, die ungeheuer ungeduldig und auf sehr rasches Entscheiden der politisch Verantwortlichen angelegt ist. Es gibt diesen Spannungsbogen: Ein Problem entsteht am Montag. Am Dienstag soll eine Antwort darauf formuliert werden und am Mittwoch dann die Implementation beginnen. So kann aber demokratische Politik nicht funktionieren.“
Tweets und Turbulenzen Fragen der Beschleunigung und zeitlichen Verdichtung, aber auch das Phänomen der Turbulenz wird Klaus H. Goetz im kommenden Jahr im Rahmen einer Research Group am Center for Advanced Studies (CAS) der LMU untersuchen. „Es gibt viele Anzeichen einer außergewöhnlichen Entwicklungsdynamik. Das gilt sowohl auf der Ebene der nationalen politischen Systeme, und zwar auch in Westeuropa, wo wir lange dem Bild von hochkonsolidierten und stabilen Demokratien angehangen sind, als auch auf der Ebene der internationalen Beziehungen und Organisationen, die einem starken Veränderungsdruck unterliegen.“ Der Begriff der Turbulenz steht dabei nicht nur für überraschende Tweets von Trump, sondern wird in der Politikwissenschaft inzwischen generell für Ereignisse verwendet, die etablierten Regeln und Normen zu widersprechen scheinen. Das gilt ebenso für die Erstellung des Haushalts 2019 in Italien, als auch für Wahlen. „Am Wählerverhalten, das uns zunehmend rätselhaft erscheint und dadurch weniger voraussehbar ist, sehen wir diese Dynamik im Moment besonders deutlich. Wir sehen sie aber auch dann, wenn ein absichtlicher Regelverstoß, wie jüngst in Italien, zum akzeptierten Handlungsrepertoire gehört.“
Die Wählerforschung zeigt, dass Wählerinnen und Wähler sich heute stärker als früher von kurzeitigen Eindrücken vor der Wahl beeinflussen lassen. „Zugleich nimmt der Anteil der Wähler zu, die überhaupt erst kurz vor der Wahl entscheiden, wem sie ihre Stimme geben. Das verändert den Charakter von Wahlen. Wenn für die Wahlentscheidung weniger wichtig wird, was die Politik in den vergangenen Jahren geleistet hat, dann muss man sich nicht wundern, wenn Parteien an Bedeutung gewinnen, die überhaupt nicht für sich in Anspruch nehmen, vergangene Leistungen dokumentieren zu wollen, sondern sich ausschließlich auf Zukunftsversprechungen konzentrieren. Damit sind die Grundlagen des responsiven Regierens, also des Handelns im Sinne des Wählers, in Frage gestellt.“
Klaus H. Goetz sieht darin einen „dramatischen Wandel“, der zur Unzeit zu kommen scheint. „Auf der einen Seite haben wir den Diskurs über Nachhaltigkeit und eine Umweltpolitik, die auf Dekaden, wenn nicht noch länger angelegt sein soll. Wenn aber Wähler immer kurzfristiger entscheiden und langfristige Politik nicht honorieren, stellt sich die Frage, wie sich Politik organisieren lässt, die Zeit braucht, um langfristige Vorhaben zu entscheiden und umzusetzen.“ Das gilt auch für große Projekte, wie die Reform der Rentenversicherung oder des Gesundheitswesens.
Der Bruch mit den etablierten Regeln Eine solche Dynamik stellt zudem sein Fach vor eine Herausforderung: „Wir sind als Sozialwissenschaftler darauf geeicht, Regelhaftigkeiten und Muster zu erkennen. Aber was ist, wenn die etablierten Regeln nicht mehr zu gelten scheinen und wir es mit einem Verhalten zu tun haben, das wir mit dem Erklärungsinstrumentarium, das wir in der Vergangenheit angewandt haben, nicht mehr erklären können?“ Es könnte sein, so Goetz, dass es bereits neue Regeln gibt, die nur noch nicht zu erkennen sind. „Ich glaube, unter dem Einfluss einer grundlegend anderen medialen Umwelt ergeben sich neue Formen des politischen Verhaltens auf der individuellen Ebene, aber auch auf der Ebene politischer Parteien und von Regierungen. Wir fühlen, dass es ein Umbruch ist, aber wir haben zum Teil noch nicht das Sensorium, um dieses Neue wirklich zu erkennen.“ Genau solche Fragestellungen zur Entwicklungsdynamik und zu Veränderungen in politischen Machtkonstellationen wird Klaus H. Goetz im Rahmen des Forschungsvorhabens am CAS mit einer internationalen Arbeitsgruppe angehen.
In den vergangenen Jahren hat sich der Politikwissenschaftler mit der Synchronisation beschäftigt. „In der Politik geht es häufig um das Abstimmen von verschiedenen Geschwindigkeiten und das Festlegen von zeitlichen Abfolgen. Das ist insbesondere wichtig auf der Ebene internationaler Organisationen, wie der Europäischen Union mit ihren 28 Mitgliedstaaten.“ In mehreren Projekten hat Goetz etwa die zeitliche Dimension bei Entscheidungsprozessen in der EU untersucht und gezeigt, wie Zeit und Macht miteinander verwoben sind. Einerseits ist die EU mit ihrer komplexen Ordnung auf verbindliche Zeitpläne angewiesen, doch, „hängt die Entscheidungsfindung in der Europäischen Union zum Teil auch davon ab, wann die Regierungen der Mitgliedsländer zur Wiederwahl anstehen“. Damit politische Vorhaben unter solchen Bedingungen gelingen, müssen sie richtig getaktet werden. Als im Frühjahr 2017 der überzeugte Europäer Emmanuel Macron als Sieger aus der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen hervorging, nutzte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Gunst der Stunde: Noch vor dem zweiten Wahlgang präsentierte er sein Konzept für eine „Europäische Säule sozialer Rechte“, die allen EU-Bürgern unter anderem den Zugang zum Arbeitsmarkt und Chancengleichheit sichern soll.
Mehr als 50 Milliarden Verlust in zwei Tagen „Zeit und Politik ist ein so spannendes Thema, weil es auf der einen Seite diese hochinstitutionalisierten Abläufe gibt und auf der anderen Seite Zeit eine wichtige Machtressource ist, die taktisch und strategisch eingesetzt werden kann.“ Gerade durch seine langjährige Forschung zu internationalen Organisationen hat Goetz seinen Blick für diesen Zusammenhang geschult. „Man muss bisweilen nur beobachten, wer wen warten lassen kann, um die Machtverhältnisse in einer Organisation zu erkennen.“
Sanierungsexperte Bryan Marsal hat Lehman Brothers nicht lange warten lassen, als ihm der Posten als Sanierungsvorstand angeboten wurde. Ein paar Minuten Bedenkzeit reichten, dann sagte er zu. Allein die Verluste von innerhalb der ersten 48 Stunden nach der Insolvenz werden auf 50 bis 100 Milliarden Dollar geschätzt. „Lehmann fiel innerhalb eines Lidschlags in sich zusammen“, erzählte Marsal später dem Spiegel beim Rückblick auf die Ereignisse im September 2008, deren Geschwindigkeit die Weltwirtschaft erschütterte.
Prof. Dr. Klaus H. Goetz ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Europäische Integration am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU. Goetz, Jahrgang 1961, studierte Politikwissenschaft in Tübingen, Massachusetts und an der London School of Economics and Political Science (LSE) und wurde am Nuffield College an der Universität Oxford promoviert. Seine akademischen Stationen führten ihn über Speyer, die LSE und Potsdam im Jahr 2013 an die LMU. Er hat bereits mehrere Forschungsprojekte zum Thema Zeitlichkeit in der Politik geleitet. Am Center for Advanced Studies der LMU startet er im kommenden Jahr die Research Group „Exceptional Political Dynamics: Temporality, Turbulence, Transformation“. Er ist Herausgeber des „The Oxford Handbook of Time and Politics“, das 2019/2020 erscheinen wird.