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Die Normen des Heiligen

16.08.2017

Wie haben sakrale Bilder auszusehen? Die Kunsthistorikerin Chiara Franceschini untersucht, wie sich im frühmodernen Europa religiöser Diskurs und visuelle Deutung gegenseitig beeinflussten.

Der Anfang ist eine klaffende Wunde – mitten in der Brust. Reichlich skandalträchtig: Die feine römische Gesellschaft, gewöhnt an den monumentalen Realismus der Renaissance und Postrenaissance, ist schockiert von den extrem expressiv-blutigen Kruzifixen eines sizilianischen Kleinmeisters. In seinem gegenreformatorischen Furor verpasst der süditalienische Bildhauer Innocenzo da Petralia dem Gekreuzigten neben den fünf Stigmata eine sechste, zentrale Wunde. Eine zuviel, findet sogar die gestrenge römische Inquisition, die einen Prozess gegen den Minoritenbruder anstrengt.

„Wäre Innocenzo da Petralia einfach in Sizilien geblieben, wäre nichts weiter passiert“, sagt Chiara Franceschini, „denn dort war man solch drastische Kreuzesdarstellungen gewohnt. Schockierend wurde der traditionelle sizilianische Stil erst, als er nach Zentral-Italien kam.“ Regional gab es also denkbar unterschiedliche Auffassungen davon, was ein Sakralbild ausmacht. Das ist der Ausgangspunkt für die Professorin für Kunstgeschichte an der LMU und ihr Projekt SACRIMA, das vom Europäischen Forschungsrat (ERC) gefördert wird. Darin untersucht die Wissenschaftlerin, die erst unlängst mit einem der hochdotierten ERC Starting Grants an die LMU gewechselt ist, mit ihrer Gruppe „die Normativität von Sakralbildern im frühmodernen Europa“.

Eine Wunde zuviel? Was also provoziert an Petralias Kruzifixen? Ist es die fast schon obszön zu nennende Lust an der Gewaltdarstellung? Oder die theologische Freizügigkeit, mit der dem sakralen Körper Jesu einfach eine weitere Wunde angedichtet wird? Oder gar beides? Petralias Kruzifixe veranschaulichen, wie sich theologische und ästhetische Konfliktlinien im gegenreformatorischen Europa verschränken und sich jeweils gegenseitig beeinflussen. Nicht zuletzt ist es auch ein Konflikt von noch bestehendem mittelalterlichen Denken und dem schon aufkommenden frühmodernen der Renaissance, sagt Franceschini. Künstlerisch sehr produktive Konflikte, wie die aus der Toskana stammende Kunsthistorikerin an einem Meisterwerk der Kunstgeschichte veranschaulicht: Michelangelos „Doni Tondo“, das wahrscheinich im Jahre 1506 entstanden ist und heute in den Uffizien in Florenz hängt.

Das „Tondo“, ein Rundbild, zeigt die Jungfrau Maria mit Jesuskind, Johannes den Täufer und – im Hintergrund hinter einer Art Mauer – fünf nackte Jünglinge. Diese etwas frivol anmutende Kombination hat schon zu vielen Deutungen Anlass gegeben. So recht erklären ließ sich der ästhetisch-theologische Konflikt bislang aber nicht. Wichtig, so Franceschini, ist zunächst einmal der Kontext, in dem das Bild ursprünglich hing. Denn das „Tondo“ war eine Auftragsarbeit für den reichen Florentiner Tuchhändler Angnolo Doni und seine Frau Maddalena, geborene Strozzi – und gedacht für das Schlafgemach. Als das Bild gemalt wurde, hatte Maddalena bereits mehrere Kinder zur Welt gebracht, die jedoch alle noch im Kindbett verstorben waren. Zu dem Schmerz der Eltern über den Verlust (und den fehlenden Nachkommen) kam im frühen 16. Jahrhundert eine ganz reale Angst um das Seelenheil der ungetauft verstorbenen Kinder hinzu.

In einem Vorhof der Hölle Der Kirchenvater Augustinus hatte im 4. Jahrhundert die Taufe zur unabdingbaren Voraussetzung für die Erlösung des Menschen von der Erbsünde erklärt, worauf seit der Synode von Karthago im Jahre 418 nach Christus die Vorstellung vorherrschte, ungetauft, aber noch im Stande der Unschuld verstorbene Kinder würden nach dem Tode einen Vorhof der Hölle bewohnen, den Limbus infantinus. Heftig diskutiert wurde diese Lehre, die freilich nie Dogma wurde, besonders im Zeitalter der Reformation und unter dem Florentiner Bußmönch Savanarola. So hatte etwa der Erzbischof von Florenz Antonino Pierrozzi (1389 – 1459) erklärt, dass die ungetauft verstorbenen Knaben im Limbus als Männer von 33 Jahren, dem Todesalter Jesu, auferstünden, keine Qual erleiden und in einer Art glücklichen Naturzustand existieren würden.

Und in der Tat, zeigt Chiara Franceschini, bewegen sich die Jünglinge, die sich auch als die verstorbenen Kinder des Paares identifizieren lassen, in einem von der Welt der Taufe und der damit verbundenen Erlösung durch eine Mauer abgeschiedenen, gleichwohl adamitisch-natürlichen Zustand. Wichtig in diesem Kontext, betont Franceschini, ist auch der ursprüngliche, sehr bemerkenswerte runde Rahmen mit fünf plastisch herausgearbeiteten Köpfen. Der obere stellt wohl Jesus selbst dar, der über dem Heilsgeschehen thront und in extremer Untersicht von dem um das Seelenheil der Kinder fürchtende Paar im Ehebett betrachtet wurde. „Kunst und Kult sind im Zeitalter der Renaissance schwer zu unterscheiden. Es geht nicht um theologische Wahrheit“, konstatiert die Kunstwissenschaftlerin, „sondern um eine theologische Inspiration zur Auferstehung, die für Michelangelo zentral ist“. Und es geht darum, wie ästhetische und theologische Diskurse einander durchdringen und beeinflussen. So ließe sich auch erklären, wieso das Sujet nach einer gewissen Zeit plötzlich nicht mehr kopiert wurde – der theologische Hintergrund hatte sich, auch bedingt durch die Reformation, schlicht verändert.

Noch einmal fünf nackte Jünglinge „Das Zeitalter der Reformation ist eine Epoche dramatischer theologischer und ästhetischer Umbrüche. Für die protestantischen Länder sind die Zusammenhänge gut erforscht“, erklärt Franceschini. Umso erstaunlicher, dass es für die katholischen Länder Italien, Spanien, Frankreich, die Niederlande und das südliche Deutschland hier noch Defizite gibt. Diese Forschungslücke will Franceschini mit dem SACRIMA-Projekt schließen und dabei vor allem auch die geographische Beziehungen in den Blick nehmen. Wie vielschichtig solche Verbindungen sein können, zeigt etwa die Geschichte des Altarbildes „Maria mit dem Kinde“ der Florentiner Renaissancemaler Fra Bartolomeo und Mariotto Albertinelli aus dem Jahre 1511. Ferry Carondelet, ein katholischer Geistlicher und Diplomat der Habsburger Monarchie, hat es gestiftet; heute hängt es in der Kathedrale von Besançon.

Wieder sind es nackte Jünglinge, die sich mitten in einem Sakralbild finden. Wieder deutet Johannes der Täufer auf die Nackten, die in einer Naturlandschaft hinter einer geöffneten Tür verweilen. Eingerahmt ist die Szenerie zudem von den Heiligen Sebastian, Antonius und Stephan sowie dem Stifter Carondelet selbst. Darüber thront die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind, begleitet von Putten. Wieder geht es, so Franceschini, „um das Seelenheil von Ungetauften“. Nur sind diesmal vermutlich nicht Kinder gemeint, sondern all jene, die gar nicht getauft werden konnten, zum Beispiel die eben erst entdeckten Indianer oder die gesamte vorchristliche Menschheit.

1509 hatte der aus bedeutendem französischem Adel stammende Carondelet bei einem Studienaufenthalt in Rom Erasmus von Rotterdam kennengelernt und sich mit dem damals bereits durchaus bedeutendem Theologen und Humanisten befreundet. Erasmus Auseinandersetzung mit dem Problem der Erlösung der Ungetauften gipfelt 1528 in der Edition einer kleinen Schrift eines frühchristlichen Kirchenvaters, der Abhandlung De Gratia des Bischofs Faustus von Riez aus dem Jahr 460 n.Chr.

Eine Absage an jede Form von Dogmatismus Die Verbreitung des Traktats mit einer kurzen Einleitung von Erasmus fällt in die Zeit heftiger theologischer Auseinandersetzungen zwischen Kurie und Reformation. Erasmus schlägt sich auf keine der beiden Seiten, sondern erteilt, so Franceschini, „jeglichem Dogmatismus eine Absage“. Wie Kirchenpatron Augustinus hatte auch Luther das Seelenheil untrennbar mit der Taufe verknüpft und ging mit seiner Prädestinationslehre sogar noch einen Schritt weiter. Ob die Seele erlöst werde oder in die Hölle komme, sei seit je von Gott vorherbestimmt, verfügte der Reformator.

Das freilich sah Erasmus völlig anders und brachte den freien Willen des Menschen und seine Fähigkeit, sich für Gut oder Böse zu entscheiden, in Anschlag. Sich dabei ausgerechnet auf Faustus von Riez zu stützen, war jedoch nicht ohne Risiko für Erasmus. Denn Augustinus selbst hatte auf der Synode von Orange im Jahre 529 nach Christus dafür gesorgt, dass Lehren, wie sie der spätantike Freigeist Faustus von Riez vertrat, theologisch als Häresie galten.

Die Darstellung von vier nackten Jünglingen auf dem Altarbild „Maria mit dem Kinde“ ist also nicht nur eine ästhetische Entscheidung der Maler Fra Bartolemeo und Albertinelli, folgert die Kunsthistorikerin Franceschini. Vielmehr verfolge sie eine theologische Aussage: Der Stifter Ferry Carandolet stelle sich damit hinter die Positionen zum freien Willen und zur Erbsünde seines Freundes Erasmus von Rotterdam. Ungetauft Verstorbene, ob nun Babys, noch nicht missionierte oder vorchristliche Menschen sind, so die theologische Aussage des Bildes, mitnichten automatisch der Verdammung anheimgefallen und könnten der Gnade Gottes teilhaftig werden.

Innocenzo da Petralia, Michelangelo, Fra Bartolemeo: Die Beispiele zeigen, wie theologische und ästhetische Diskurse im Zeitalter von Reformation und Gegen-Reformation auf komplexe Weise verwoben sind. Es ist ein Wechselspiel im 15. und 16. Jahrhundert, ein Reigen, in dem sich Kunst und Religion in ihren jeweils regionalen Ausprägungen nicht nur gegenseitig beeinflussen, sondern auch weitertreiben. Oft waren solche Auseinandersetzungen richtungsweisend, manchmal aber waren die Gegensätzlichkeiten zunächst so groß, dass schon das Bild einer Wunde bildlich gesprochen einen äußerst wunden Punkt treffen konnte.Von Maximilian Burkhart

Prof. Dr. Chiara Franceschini ist Professorin für Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit an der LMU. Franceschini, Jahrgang 1973, studierte Archäologie, Kunstgeschichte und Geschichte an der Scuola Normale Superiore in Pisa, Italien, wo sie im Jahre 2008 ihren Ph.D. erwarb, und dem Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, Italien. Sie war Postdoktorandin am Warburg Institute der University of London, Großbritannien, und lehrte und forschte am University College London, bevor sie 2016 mit einem Starting Grant des Europäischen Forschungsrates (ERC) an die LMU kam.

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