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„Die unvernünftigste und großartigste Entscheidung“

13.06.2018

Die kleine Serap Özer hatte einen Traum: Sie wollte Archäologie studieren. Doch ihre Lehrer nahmen ein Mädchen mit Migrationshintergrund nicht ernst und schickten sie auf die Hauptschule. Doch Serap kämpfte sich ohne Geld durch die Lehre, holte schlie...

„Ich mag keine Türken!“ Rums, das saß. In der dritten Klasse hat Serap Özers Lehrerin das dem damals neunjährigen Mädchen direkt ins Gesicht gesagt. Als die Entscheidung anstand, auf welche weiterführende Schule sie soll, lautete die Empfehlung entsprechend: Hauptschule. „Dabei wollte ich schon immer studieren“, betont Serap. In der fünften Klasse hielt sie ein Referat über Steinzeitmenschen und erzählte von ihrem Traum, einmal Archäologin zu werden. Da hat sie die Lehrerin nur ausgelacht. Dennoch hat Serap ein ambivalentes Verhältnis zu Lehrern. Denn obwohl die beiden schmerzhaften Situationen die heute 30-Jährige noch immer begleiten, haben sie die gebürtige Friedbergerin mit ihrem Verhalten auch motiviert. Heute ist sie LMU-Deutschlandstipendiatin. Doch der Weg dorthin war „krank und krass“.

„Rückblickend empfinde ich es selbst nur als ‚wow‘, dass ich das durchgestanden habe“, erzählt Serap. Noch bevor sie die Schule abgeschlossen hatte, haben sich die Eltern getrennt. Der Vater weigerte sich, Unterhalt zu zahlen. Mit 17 Jahren beschloss Serap auszuziehen, damit ihre Mutter sich eine kleinere Wohnung suchen konnte. Die Miete für die alte Wohnung war, ohne den Vater, nicht mehr zu stemmen. Um Geld zu verdienen, hielt sich Serap mit Nebenjobs über Wasser und beschloss eines Tages resigniert, eine Lehre zu beginnen. Der Traum vom Studium war geplatzt. „Das war zu dieser Zeit die einzige Möglichkeit“, erinnert sie sich. Der Chef wusste um ihre Situation, nutzte sie aus. „Im Prinzip habe ich nur ein unbezahltes Praktikum gemacht.“ Überstunden, Sonntagsarbeit, Verzweiflung – mit 17 Jahren erlitt Serap einen Burn-out.

Suchtfaktor Forschungsgrabungen Doch Serap ließ sich auch dank ihres Freundes nicht unterkriegen, wechselte den Arbeitgeber und bestand ihre Lehre zur Kauffrau im Einzelhandel als eine der besten Absolventen. Anschließend arbeitete sie drei Jahre in Vollzeit. Jetzt also endlich das Abitur nachholen. Das Problem: Serap konnte sich das trotz BAföG nicht leisten. Das angesparte Geld reichte vorne und hinten nicht. Sie tat es trotzdem. „Das war zu diesem Zeitpunkt das Unvernünftigste, was man hätte machen können“, sagt sie und lacht. Mit Nebenjobs werde es schon irgendwie gehen, dachte die Idealistin. Und tatsächlich: 2015 erhielt sie die langersehnte Hochschulzugangsberechtigung – als erste in der Familie. Endlich konnte sie sich den Traum aus der fünften Klasse erfüllen: Sie erforscht in ihren Studienfächern Antike und Orient beziehungsweise Archäologie – unter anderem – Höhlenmenschen.

„Durch das Deutschlandstipendium habe ich zum ersten Mal in meinem Leben keine Geldsorgen“, versichert Serap. Früher sei nach einer Woche das Konto bereits im Minus gewesen, eine defekte Waschmaschine oder selbst das Semesterticket habe sie beinahe ruiniert. Bei der Forschungsgrabung in Irakisch-Kurdistan im letzten Jahr musste sie ihre Arbeitshosen noch im Rotkreuzladen für 1,50 Euro erstehen. „Jetzt kann ich mir endlich richtige Grabungsklamotten kaufen und sehe bei der nächsten Ausgrabung aus wie eine professionelle Archäologin“, freut sie sich. Ihrem Wunsch aus Kindertagen zufolge sei genau die richtige Entscheidung gewesen: „Forschungsgrabungen haben einen Suchtfaktor.“ Staub, Temperaturen über 50 Grad und viel Arbeit stören sie nicht: „Abends freue ich mich immer schon auf den nächsten Tag, weil es so aufregend ist“, sagt sie und strahlt.

In ihrer Freizeit hilft Serap jetzt anderen Kindern mit Migrationshintergrund, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie bietet in einem sozial benachteiligten Stadtteil Augsburgs Nachhilfe an. „Ich komme auch von der Hauptschule“, sagt sie ihnen immer wieder. Man dürfe niemals darauf hören, was irgendein Lehrer erzähle. Immer schön einen Abschluss nach dem anderen machen. Serap engagiert sich auch in einem Gemeinschaftsgarten, wo sich afghanische, deutsche, bulgarische und türkische Familien zum interkulturellen Austausch treffen. Das klingt trockener als es ist: Es wird gemeinsam gefrühstückt, gegärtnert, gegrillt oder im Winter am Lagerfeuer Glühwein getrunken. Auch ihnen versucht sie, beruflich Mut zu machen. Viele waren skeptisch. „Doch jetzt sehen sie, dass ich es auch geschafft habe“, sagt Serap stolz. „Es war die beste Entscheidung meines Lebens.“

Das Deutschlandstipendium an der LMU

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