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Die Weisheit der Vielen

23.05.2023

Das LMU-Projekt „ARTigo – Social Image Tagging“ wurde im Rahmen der erstmaligen Vergabe des „European Union Prize for Citizen Science“ auf der Ars Electronica in Linz mit einer „Honorary Mention“ gewürdigt.

Was machen Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, wenn sie digitale Reproduktionen von Kunstwerken für ihre Forschung suchen? Sie recherchieren in Datenbanken, die nicht selten Millionen Bilder beinhalten. Um solche Bildkorpora gezielt untersuchen zu können, werden beschreibende Textdaten benötigt. Genau hier setzt das LMU-Projekt „ARTigo – Social Image Tagging“ an: Die bereits 2010 ins Leben gerufene Online-Plattform sammelt Schlagwörter zu Kunstwerken auf innovative und spielerische Weise, wodurch sie maßgeblich zur Optimierung von kunsthistorischen Suchmaschinen beiträgt.

Das Bild zeigt die Suchmaske der Website Artigo, auf der verschiedene Gemälde gezeigt werden.

Die Suchfunktion auf der Website des ARTigo-Projekts

© ARTigo-Projekt

Ziel: Möglichst viele Punkte sammeln

ARTigo soll durch sein Wesen als Spiel ein breites Publikum erreichen, versteht sich als eine soziale Software. Und die von Stefanie Schneider, Assistentin für Digitale Kunstgeschichte am Institut für Kunstgeschichte der LMU, neu konzipierte Version wurde bei der Ars Electronica im Rahmen der Vergabe des „European Union Prize for Citizen Science“ mit einer „Honorary Mention“ geehrt. Die Europäische Kommission hat das weltbekannte Medienkunst-Festival in Linz mit der erstmaligen Durchführung des nun jährlich vergebenen Wettbewerbs beauftragt, der herausragende Projekte und Initiativen unterstützt, die Forschung, Innovation, Engagement und Kreativität in den Dienst der Gesellschaft stellen. Die Preisverleihung findet im September in Linz, Österreich, statt.

In jeder Spielrunde von ARTigo bekommen die Nutzerinnen und Nutzer eine zufällige Auswahl von Kunstwerken präsentiert. Innerhalb einer festgelegten Zeitspanne sollen diese Werke mit Schlagwörtern, den sogenannten „Tags“, versehen werden. Ziel ist es, möglichst viele Punkte zu sammeln. Fünf Punkte erhält man, wenn der Tag für ein Bild bereits in einer früheren Spielrunde vergeben wurde; fünf weitere Punkte, wenn die Mitspielerin oder der Mitspieler denselben Tag verwendet, also ein Match stattfindet. Wer als Erster ein Bild beschreibt, erhält immer fünf Punkte pro Tag. Ziel ist es, möglichst viele Punkte durch übereinstimmende Angaben zu erzielen. Der Selbstversuch macht Spaß: Sei es der barocke Palazzo Barberini, eine Kreuzaufrichtung von Peter Paul Rubens, eine architektonische Projektstudie von Frei Otto, eine Kasel aus rotem Samt mit gestickter Kreuzigungsdarstellung oder die Fotografie „Der Vagabund“ des Fotopioniers und Erfinders André Adolphe-Eugène Disdéri – sie alle wollen möglichst schnell und punktereich getaggt werden.

Die Schlagwortseite auf der Artigo-Website. Zu sehen sind Bilder von Gabriel von Max: Schmetterlinge und Raupen, zwei tote Igel, Häckel-Urmenschen und ein Ruß-Abdruck von Händen.

Jedem Bild können die Spielenden Schlagwörter zuweisen und erhalten dafür Punkte.

© ARTigo-Projekt

61.000 Bilder, 45.000 Spielerinnen und Spieler, 10 Millionen Schlagwörter

Das Projekt blickt dabei auf eine lange Historie zurück: Bereits 2008 entwickelte Gerhard Schön, Mitarbeiter der IT-Gruppe Geisteswissenschaften der LMU, einen ersten Prototyp der Spieleplattform als Proof of Concept. Zwischen 2010 und 2013 wurde ARTigo dann von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und maßgeblich realisiert am Institut für Kunstgeschichte und am Institut für Informatik von den LMU-Professoren Hubertus Kohle und François Bry. Um für die Zukunft besser gerüstet zu sein, konzipierte Stefanie Schneider die Plattform schließlich von 2021 bis 2022 neu und erweiterte sie. Mittlerweile können Tags nicht nur textuell hinzugefügt werden, sondern auch visuell durch das Ziehen und Wischen mit der Maus erfasst werden. „Seit 2010 wurden über 61.000 Bilder von mehr als 45.000 Spielerinnen und Spielern mit fast 10 Millionen Schlagwörtern annotiert“, so Schneider.

Der zugrundeliegende Bestand digitalisierter Reproduktionen von Kunstwerken ist vor allem jener der Datenbank „Artemis“, die am Institut für Kunstgeschichte der LMU München in Zusammenarbeit mit der IT-Gruppe Geisteswissenschaften der Universität aufgebaut wurde. Weitere Kunstwerke stammen aus der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, dem Rijksmuseum in Amsterdam und dem Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln. Über eine Drag-&-Drop-Funktion können mit der neuen Version auch eigene Bildersammlungen hochgeladen werden, die vor der Veröffentlichung manuell geprüft werden.

Die gestaltende Kraft des Spiels

ARTigo soll Freude bereiten, aber ganz im Sinne von Johan Huizingas 1938 entstandenem Hauptwerk „Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel“ auch produktiv sein, was kein Widerspruch ist: Das Spielen selbst ist kulturbildend, schreibt Huizinga – keine Kultur ohne Spiel. In seinem kulturhistorischen Klassiker verdeutlicht der niederländische Wissenschaftler, dass das Spiel gestaltende Kraft hat. Die in enger Kooperation zwischen dem Institut für Kunstgeschichte und dem Institut für Informatik der LMU entwickelte kollaborative Plattform – aktuell sind im Projekt mit Ricarda Vollmer und Maximilian Kristen Hilfskräfte aus beiden Instituten beschäftigt – ist in diesem Kontext ein faszinierendes Beispiel offener Forschungspraxis, mit der auf spielerische Weise kunsthistorisches Wissen geschaffen wird: ein Paradebeispiel eines Citizen-Science-Projekts, bei dem Bürgerinnen und Bürger aktiv und direkt zu Forschung und Wissenschaft beitragen.

Schneider hebt die demokratisierende Funktion des Projekts hervor: „ARTigo ermöglicht den Zugang zu einem Bereich, der traditionell als elitär betrachtet wird, und schöpft aus der Weisheit der Vielen, indem es kollektives Wissen nutzt. Es verdeutlicht eindrucksvoll, dass das kulturelle Erbe nicht ausschließlich das Produkt von Expertinnen und Experten ist, sondern ebenso das Resultat alltäglicher menschlicher Aktivitäten. Die Ehrung im Rahmen des ‚European Union Prize for Citizen Science‘ illustriert die herausragende Bedeutung von ARTigo im Kontext der partizipativen Wissenschaft und bestätigt zugleich die erfolgreiche Realisierung des Projekts. Dies unterstreicht die Relevanz von Citizen Science im Bereich der digitalen Kunst- und Kulturvermittlung und betont die Rolle der LMU als Pionierin auf diesem Gebiet.“

Weitere Informationen gibt es beim Department Kunstgeschichte und ARTigo.

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