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„Ein Appell, die Geschichte weiter zu erzählen“

21.02.2018

"Und dann wird die Geschichte dieser Freunde so jäh abgebrochen. Eben das ist für uns heute die Aufforderung, diese Geschichte weiterzuerzählen." LMU-Historiker Michele Barricelli im Interview.

Die Verhaftungen und Hinrichtungen einiger Mitglieder der Weißen Rose jähren sich 2018 zum 75. Mal. Wofür steht die Geschichte der Weißen Rose heute? Die Weiße Rose steht für eine Gruppe von Menschen, die mit ihrer Tat bewiesen: Auch in Situationen, in denen die meisten glauben, kaum noch etwas gegen Unrecht und Gewalt ausrichten zu können, tun es einige eben doch – unter Aufbietung ihres Lebens. Gerade heute gehen wir als Gesellschaft in der Gegenwart auf die Suche nach Geschichten aus unserer Vergangenheit, die zeigen, dass es möglich war, sich auch unter verzweifelten Umständen für eine bessere Zukunft einzusetzen, vielleicht sogar wissend, dass man davon selbst nicht mehr profitieren würde. Wir leben heute in einer Zeit, in der große Teile der Bevölkerung Verunsicherung spüren – das ist in dieser Form zumindest in der Bundesrepublik doch neu. Seit Kriegsende gab es in (West-)Deutschland eigentlich stets ein starkes politisches Grundvertrauen. Der Klimawandel jedoch, demographische Verschiebungen, Migration, Digitalisierung, die offenbar nicht zu lösenden Antagonismen bei der Verteilung von Produktionsmitteln, religiöse Fundamentalismen, die messbar zunehmen, all diese soziologischen und globalen Veränderungen beunruhigen Viele, weil manches kaum noch steuerbar scheint. Die Geschichte der Weißen Rose steht in dieser unabsehbaren Welt für die Überzeugung, dass Bildung und Aufklärung, dass vernünftige Argumente und der gute Wille die Menschen verändern und etwas bewirken können.

Beobachten Sie einen Wandel im Gedenken der Weißen Rose? Was sagt unsere Art, ihre Geschichte heute zu erzählen, über die Gegenwart aus? In den 1950er Jahren bedeutete die Auseinandersetzung mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus etwas anderes als für uns heute. Deutschland war damals ein seelisch verheertes Land – es suchte vielleicht auch deswegen nach der „Seele des Widerstandes“ und fand sie, wie früh gesagt wurde, in der Weißen Rose. Die Weiße Rose bot Identifikationsmerkmale, die bereits für die junge Bundesrepublik von Bedeutung waren. Das gilt noch einmal in besonderer Weise für Hans und Sophie Scholl als Identifikationsfiguren. Sie waren Geschwister, das ist schon an sich ein kultureller Wert in der deutschen Geschichte – denken Sie etwa an die Gebrüder Grimm oder die Humboldts. Sie waren jung. Sie entstammten bildungsbürgerlichen Familien und waren von Anhängern des Nationalsozialismus zu dessen Gegnern gereift. Und sie waren stark religiös geprägt; ihr Handeln war ganz grundsätzlich von der christlichen Idee getragen, dass Menschen einander nicht töten und nicht bekriegen sollen. In der Bundesrepubik stand nach dem Krieg der Verweis auf den christlichen Widerstand überhaupt im Vordergrund. Die Erinnerung an den kommunistischen Widerstand war dagegen schwierig, obwohl er doch zahlenmäßig bei Weitem am größten war. Und dem militärischen Widerstand wurde lange noch mit dem Vorwurf des „Verrats“ oder „Eidbruchs“ begegnet. Das hat sich mit den Umbrüchen um 1968 und während der sozialliberalen Koalition verändert. In den 1980er Jahren setzte dann die Erzählung der „Geschichte von unten“ ein, die auch unterbürgerliche Schichten sowie Kommunisten einschloss. Dabei herrschte allerdings noch ein historisches Denken in kollektiven Bezügen vor. Heute indes erinnern wir uns individueller, unser Geschichtsbewusstsein ist zunehmend an Persönlichkeiten und Biographien orientiert, viel weniger an Strukturen und Paradigmen als zum Beispiel in den 1970er Jahren. Jedes gelebte Leben zählt für sich. Man meint, der Geschichte so besonders nah kommen zu können. Das wiederum bedeutet, dass wir einzelne Personen ins Zentrum unserer kollektiven Erinnerung rücken, und daher passt die Geschichte der Weißen Rose, wie eingangs gesagt, einfach sehr gut zu unserer Zeit.

Wie können wir die Erinnerung an die Weiße Rose heute lebendig halten? Menschen eignen sich Geschichte über Erzählungen an. Bei der Weißen Rose haben wir eine ganz starke Geschichte: Menschen, die einen Lernprozess durchliefen, in sich vielschichtig waren – Hans Scholl lebte auch homosexuelle Beziehungen – , aber am Ende leidenschaftlich für ihre anti-totalitäre Überzeugung kämpfen, wissend, dass sie dies womöglich mit dem Leben bezahlen würden. Gegen ihre intellektuell anspruchsvollen Flugblätter, die gerade auch für Schüler heute oft nicht mehr einfach zu verstehen sind, steht ihre geradezu irrsinnige Tat, in einer total gleichgeschalteten Uni eine solche Aktion zu wagen. Sie wussten sich womöglich nicht anders zu helfen, als sich in solche Gefahr zu begeben, denn nahezu ausnahmslos alle Studierenden und Professoren – nicht nur in München – handelten damals im Sinne des NS-Staats, oft aus Überzeugung. Übrigens hatten sich die deutschen Hochschulen generell sehr früh in besonders perfider Weise mit dem terroristischen System gemein gemacht. Und dann wird die Geschichte dieser Freunde – bei aller heute bekannten Verzweigung der Gruppe doch nur wenige Einzelne –, die dagegen standen, so jäh abgebrochen durch Aburteilung und bei manchen gar Exekutierung. Sie werden bildlich wie die Blume in ihrem Namen – den ihnen nicht, wie bei vielen anderen Widerstandskreisen, erst die Gestapo gegeben hat – geknickt. Eben das ist für uns heute die Aufforderung, diese Geschichte weiterzuerzählen und zu bewahren, zu erforschen und zu kultivieren. Wir könnten es uns niemals leisten, zu sagen, diese Erzählung sei schon damals oder aber jetzt an ihr Ende gekommen. Die Nationalsozialisten haben während ihrer Herrschaft eine damnatio memoriae tatsächlich angestrebt: Die spätere Erzählung über ein Deutschland nach dem „Endsieg“ sollte frei sein von der Erinnerung an „Gegner“, „Gemeinschaftsfremde“, „Verräter“. Deshalb würden wir, wenn wir uns nicht erinnerten, letztlich ein Programm der NS-Täter erfüllen. Die Geschichte der Weißen Rose ist deswegen ein Appell, die Vergangenheit immer weiter und immer wieder neu zu beleuchten. Die Lutherdekade hat uns zwar gezeigt, dass mit viel Aufwand betriebenes Gedenken nicht notwendigerweise zu mehr Geschichtsbewusstsein führt. Für das Gedenken der Weißen Rose würde ich mir jedoch wünschen, dass wir diese Geschichte, die einigen vielleicht nur ikonisch oder als Schlagwort präsent ist, gewissermaßen als narrative Abkürzung, wieder mit Sinn auffüllen, indem wir uns neue, relevante Fragen stellen – über die Menschen damals, über uns selbst und über unsere Beziehung zueinander. Hier können wir von den außerordentlichen Frauen und Männern, die einst Hitler-Deutschland unter den hoffnungslosesten Umständen die wissende Stirn boten, noch viel lernen.

Prof. Dr. Michele Barricelli ist Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Geschichte und Public History der Ludwig-Maximilians-Universität

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