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„Ein gespaltenes Land“

18.07.2016

Krise, Desinteresse, Frustration: Warum viele Brasilianer im Moment lieber auf die Olympischen Spiele verzichten würden, erklärt PD. Dr. Ursula Prutsch vom Amerika-Institut der LMU.

In wenigen Wochen beginnen in Brasilien die Olympischen Spiele. Wie ist die Stimmung im Land? PD. Dr. Ursula Prutsch: Die Stimmung ist sehr, sehr schlecht. Und zwar schon seit 2013, seit der ersten großen Demonstration gegen den Confederations Cup in Brasilien. Besonders schlecht ist die Stimmung seit dem Amtsenthebungsverfahren von Dilma Rousseff. Die Politikverdrossenheit ist extrem. Brasilien steckt nicht nur in einer gewaltigen Wirtschaftskrise, sondern auch in einer politischen und kulturellen Krise. Viele Brasilianer betrachten die Olympischen Spiele derzeit als überflüssig, weil sie ohnehin nur Spiele für eine begüterte Minderheit sind.

Was sind die Ursachen der Krise? Der Kern dieser Krise liegt in der Enttäuschung aller gesellschaftlichen Schichten über Politik und Wirtschaft. Zudem ist das Land sehr gespalten. Zwar haben die Regierungen Lula und Dilma Rousseff seit dem Jahr 2003 viele gute Reformen begonnen, die sich zum Beispiel gegen die Marginalisierung der Afro-Brasilianer richten und eine Erhöhung der Mindestlöhne durchgesetzt haben. Doch die Unterschicht, die man durch diese Reformen stärken wollte, ist durch Arbeitslosigkeit und Überschuldung bedroht. Und die Oberschicht fühlt sich wiederum durch diese politische Ermächtigung der unteren Schichten in Gefahr. Zwar gab es in Brasilien nie ein Apartheitsregime, aber de facto existierte etwas Ähnliches: Viele öffentliche Räume waren über lange Zeit hinweg fast private Räume der Mittel- und Oberschicht, da nur sie sich den Einkauf im Shoppingcenter oder Flugtickets leisten konnten. Nun fürchtet die Oberschicht den „Pöbel“. Und auch die Mittelschicht Brasiliens ist sehr verwundbar: Das schlechte öffentliche Schul- und Gesundheitssystem, das eine teure private Vorsorge und Schulbildung erstrebenswert macht, ist für diesen Teil der Bevölkerung im Moment nicht mehr finanzierbar.

Welche Auswirkungen hat die politische und wirtschaftliche Krise auf die Olympischen Spiele? Die Brasilianer werden versuchen, ihr Image so gut es geht zu wahren. Auf Vorwürfe und Zweifel der Industriestaaten reagieren die Brasilianer sehr, sehr empfindlich. Sie wollen selbst gerne Teil der „ersten Welt“ sein und sind gleichzeitig wieder in den Modus „Es geht ohnehin alles schief und man blamiert sich in der ganzen Welt“ zurückgefallen.

Vor dem Hintergrund der politischen Krise ist zudem noch überhaupt nicht klar, wer die Spiele eröffnen wird. Derzeit ist ja der Interimspräsident Michel Temer an der Macht, Dilma Rousseff fühlt sich jedoch zu Recht noch als legitime Regentin. Vielleicht wird zur Not Rousseff neben Temer stehen und gemeinsam mit ihm die Spiele eröffnen.

Was bedeuten die Spiele für die Stadt Rio de Janeiro und ihre Bewohner? Im Hinblick auf neue stadtplanerische Konzepte in Rio bedeuten die Spiele sicher ein Plus, gleiches gilt für den Tourismus. Das ambitionierte Stadtverschönerungskonzept zeigt sich zum Beispiel im alten Hafenviertel Porto Maravilha, wo neue Museen entstehen und eine Straßenbahnlinie eröffnet wird. Gleichzeitig gibt es viel Kritik. Ein Beispiel dafür ist die Bucht von Guanabara, in der die Segelwettbewerbe der Olympischen Spiele stattfinden werden. Die Bucht ist ökologisch praktisch tot und das seit mehreren Jahrzehnten. Trotzdem hat man verabsäumt, die Wasserqualität zu verbessern. Kritisch sehe ich auch die Verlängerung der U-Bahn-Linie, die angeblich den Bewohnern Rio de Janeiros langfristig etwas bringen soll. Doch der Großteil der Spiele findet im Süden Rios statt, wo vor allem Reiche in einer Gated Community wohnen und mit der Stadt nicht unbedingt etwas zu tun haben wollen, während sich ihre Dienstboten die im Vergleich zu den Bussen recht teuren U-Bahn-Tickets nicht leisten können.

Das zeigt: Sehr viel Geld wurde für die Olympischen Spiele ausgegeben, Geld, das man eigentlich verwenden müsste, um die Infrastruktur in den Favelas zu verbessern, die oft keine asphaltierten Straßen haben und illegal Strom beziehen. Hier wurde ganz offensichtlich Geld verschwendet. Und: Rio wird nach Ende der Spiele große Defizite haben – und das wird für die Stadt und den Staat Rio de Janeiro, der praktisch bankrott ist, dramatisch werden.

Welche politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen hatte die WM 2014 im Rückblick? Welche Parallelen gibt es zu den Olympischen Spielen? Insgesamt kann man sagen, dass die WM geringe Auswirkungen auf Brasilien hatte – und wenn, dann vor allem negative: Gerade die Renovierung der alten Stadien in Brasilien, wie zum Beispiel des Maracanã-Stadions in Rio, das man nicht nur renoviert, sondern auch privatisiert hat, sorgt dafür, dass sich ärmere Brasilianer kaum noch Fußballspiele anschauen können.

Nach den Olympischen Spielen wird die Stadt ein weitaus größeres Defizit haben als bei der WM. Interimspräsident Temer hat gerade aus einem staatlichen Fonds Millionen von Dollar genommen, um dem Gouverneur des bankrotten Staates Rio de Janeiro zu helfen. Beide gehören derselben Partei an. Wenn man sich die Auswirkungen der WM, der Olympischen Spiele sowie der multiplen Krisen ansieht, wird klar: Ein größerer Teil der Brasilianer fällt in die Armut zurück, der weißen Oberschicht wird nichts passieren, Minderheitenrechte hingegen drohen zurückgenommen zu werden. Interview: Constanze Drewlo

PD. Dr. Ursula Prutsch arbeitet am Amerika-Institut der LMU. Schwerpunkte ihrer Forschung sind die Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika sowie die Geschichte Argentiniens und Brasiliens.

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