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Ein Hang zu milderer Bestrafung

14.09.2022

Im Laienurteil kommen Gruppentäter für dasselbe Vergehen offenbar besser weg als Einzeltäter. Warum das so ist, haben Neurowissenschaftler untersucht.

Der Mord an Julius Cäsar, Gemälde von Vincenzo Camuccini | © Imago / Leemage

Es war eine kollektive Tat: Im Jahr 44 vor Christus erstachen römische Senatoren während einer Senatssitzung Julius Cäsar. Gemeinsam brachten sie ihm mehr als 20 Messerstiche bei. Ähnliche Gruppenmorde gab es im Laufe der Geschichte immer wieder. Im 17. Jahrhundert etwa töteten 15 Verschwörer Nader Shah, einen einflussreichen iranischen Monarchen. Solche Fälle finden sich nicht nur in den Geschichtsbüchern. Kollektiv begangene Straftaten und andere Verstöße gegen Recht und Moral gibt es auch in heutigen Gesellschaften immer wieder, und Opfer sind keinesfalls nur die Mächtigen. Heutzutage sorgen etwa Gruppenvergewaltigungen, Hassverbrechen oder Putschversuche immer wieder für Schlagzeilen.

Die Rechtsprechung ist das eine. Wie aber beurteilen wir – als juristische Laien – die Schwere der Verfehlungen und den Anteil des einzelnen Beteiligten? Neigen wir dazu, einem Gruppentäter eine geringere Schuld und damit eine mildere Bestrafung zuzugestehen als einem Einzeltäter? Teilen wir die Schuld sozusagen auf? Solche Fragen hat sich ein Team um die LMU-Neurowissenschaftlerin Dr. Anita Keshmirian gestellt. Die internationale Forschungsgruppe, an der von der LMU auch Prof. Dr. Ophelia Deroy, Inhaberin des Lehrstuhls für Philosophy of Mind, und der Psychologe Dr. Bahador Bahrami sowie Forschende von der Harvard University, Cambridge, USA, und der Brown University, Providence, USA, beteiligt waren, hat untersucht, ob und, wenn ja, warum wir in unserem Alltagsverständnis mit zweierlei Maß messen.

In einer ganzen Reihe von Experimenten haben die Forscherinnen und Forscher Hunderte zufällig ausgewählte Probandinnen und Probanden gebeten zu beurteilen, wie hart ein Täter bestraft werden solle – je nachdem, ob er die Tat alleine oder im Kollektiv begangen hat. Bei den Vergehen, für die die Höhe der Strafe abgefragt wurde, handelte es sich um durchaus unterschiedliche Straftatbestände. Dass sich Menschen weniger für die Schäden verantwortlich fühlen, die sie gemeinsam mit anderen verursachen, ist aus früheren Forschungsarbeiten bekannt. Doch konzentrierten sich diese Arbeiten auf die Beurteilung durch Personen, die in die Verstöße involviert waren.

Unser Verständnis von Ursache und Wirkung

Doch wie sieht es aus, wenn Dritte, Unbeteiligte ohne Eigeninteressen, eine Tat und die Härte der Strafe beurteilen sollen? Die neue Studie hat gezeigt, dass auch sie dazu neigten, Gruppentäter nachsichtiger zu behandeln. Dieser Effekt wird als „Diffusion der Strafe“ bezeichnet. Dieses Phänomen scheint tiefer in unserem Denken über Moral verankert zu sein. Die Ergebnisse sind jetzt in Scientific Reports erschienen, einem Open-Access-Ableger des renommierten Fachblattes Nature.

Dieses Ergebnis, so sagt Erstautorin Keshmirian, hat durchaus praktische Auswirkungen auf die Justiz – etwa bei Geschworenenprozessen. In den meisten Rechtssystemen werden alle Täter kollektiver Handlungen als gleichermaßen verantwortlich für die verursachten Schäden angesehen und sollen danach die gleiche Strafe zu erwarten haben. Das aber kann den Ergebnissen zufolge durchaus von dem abweichen, was Laien als gerechte Bestrafung ansehen. In Geschworenenprozessen wie in den USA kann die Jury durchaus zu Urteilen kommen, die von der Rechtsnorm eklatant abweichen. Auch sonst könnten solche Diskrepanzen dem Vertrauen in die Justiz abträglich sein.

Doch wie kommt es zu solchen Diskrepanzen? Die Antwort, so glauben die Wissenschaftler, liegt in einem grundlegenden Aspekt unseres Verständnisses von Ursache und Wirkung: Wenn es mehrere Ursachen für eine Wirkung gibt, neigen wir dazu, den Beitrag jeder einzelnen herunterzurechnen. Wenn beispielsweise beide Elternteile ihr Kind vernachlässigen, teilen wir gedanklich gleichsam die Verantwortung für den angerichteten Schaden auf – so, als könnten wir davon ausgehen, dass ein Teil des Kindesleides von der Mutter und der andere vom Vater verursacht wurde. Wenn dieses Denkmuster eine „geteilte Verantwortung“ und damit die Unterschiede in dem vorgeschlagenen Strafmaß erklärt, würden wir diese nur dann erwarten, wenn die Täter ihren Opfern tatsächlich einen Schaden zufügen. Die Experimente bestätigten diese Vermutung.

Im ersten Experiment wurden Mitglieder von Gruppen, die entweder vorsätzlich oder auch nur versehentlich jemanden töten, von den Befragten weniger hart bestraft als Einzeltäter. Ging es in der skizzierten Fallgeschichte um einen fehlgeschlagenen Mordversuch, machten die Probanden dagegen keinen Unterschied. Die bloße – wenn auch perfide – Absicht, so interpretierten die Wissenschaftler dieses Urteil, richte noch keinen Schaden an, für den die Verantwortung geteilt werden könnte.

Um diese Interpretation zu bestätigen, fragten die Wissenschaftler zwei weitere Konstellation ab: In einer ging es um Körperverletzung, im anderen um einen eklatanten moralischen Normverstoß, bei dem es aber kein Opfer und so gesehen keinen nachhaltigen Schaden gab. Die Studienteilnehmer hielten beide Fälle für strafwürdig. Doch während im Fall der Körperverletzung bei einem Gruppendelikt die Befragten wieder dafür votierten, die Verantwortung zu teilen, sahen sie im zweiten Fall keinen direkten Schaden, den sie den Täter kausal anlasten konnten. „Dies zeigt“, so erklärt Anita Keshmirian die Befunde, „welch grundlegende Bedeutung Kausalität und ihre Bewertung für unsere Wahrnehmung der Welt und ihrer Moral haben.“

Anita Keshmirian, Babak Hemmatian, Bahador Bahrami, Ophelia Deroy, and Fiery Cushman: Diffusion of punishment in collective norm violations. Scientific Reports 2022

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