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„Ein Krieg, in dem ein Sieg ausgeschlossen war“

06.09.2021

Professor Michael Hochgeschwender ist Amerikanist. Im Interview spricht er über Afghanistan und das außenpolitische Vermächtnis des 11. Septembers.

Professor Michael Hochgeschwender

Herr Professor Hochgeschwender, wo waren Sie am 11. September 2001?

Das weiß ich noch ganz genau. Ich war in der Kaffeeküche des Seminars für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen und mein damaliger akademischer Lehrer Udo Sauter kam vorbei und sagte, es sei an der Zeit, den Fernseher anzumachen. Er fügte in der ihm eigenen etwas ironischen Art und Weise hinzu: „Die USA sind gerade dabei unterzugehen.“ Ich holte den Fernseher, schaltete ihn ein und von da an verfolgten wir die Geschehnisse live im Institut für Zeitgeschichte.

Bereits am 13. September hat die NATO das erste und bisher einzige Mal den Bündnisfall ausgerufen. Wie erklären Sie sich diese Tragweite?

Seit dem amerikanischen Bürgerkrieg und Pearl Harbor war es das erste Mal, dass auf dem nordamerikanischen Kontinent – im Mutterland – ein solches Ereignis stattfand. Aus diesem Grund gab es seitens der USA natürlich das Bedürfnis, Solidarität von den Bündnispartnern zu empfangen. Gleichzeitig merkte man damals auch, dass die Bündnispartner ebenso geschockt waren. Ihnen wurde klar, dass eine neuartige Situation eingetreten war, die über den Terror, der bis dahin ausgeübt worden war, deutlich hinausging und die globale Handlungsfähigkeit von Gruppen wie El Kaida belegte.

Es war an der Zeit, den Amerikanern zu signalisieren: Wir stehen hinter euch. Wobei sich relativ schnell zeigte, als es um den Irakkrieg ging, dass diese Solidarität nicht ganz so uneingeschränkt war, wie sie ursprünglich verkündet worden ist.

Präsident George W. Bush

Am 20. September 2001 verkündet Präsident George W. Bush, dass der „war on terror“ zwar mit El Kaida beginne, aber nicht mit ihnen enden würde.

© IMAGO / Everett Collection

Würden Sie sagen, dass Präsident Bush keine andere Wahl hatte, als einen Krieg mit Afghanistan zu beginnen?

Die Optionen waren definitiv nicht sehr vielfältig. Er musste nach einem solchen Angriff, der oft mit Pearl Harbor gleichgesetzt wurde, reagieren. Es wäre auch zu wenig gewesen, nur auf Bin Laden Jagd zu machen. Der Unterschied zu Pearl Harbor war jedoch, dass man es nicht mit einem staatlichen Akteur zu tun hatte, sondern mit einem Terrornetzwerk.

Die Frage ist deswegen: Wie sinnvoll war der Einsatz in Afghanistan als groß angelegter Krieg? Es wären auch Kommando-Operationen vorstellbar gewesen. Auf amerikanischer Seite bestand aber offensichtlich auch das Bedürfnis, durch einen Angriff auf Bagdad entsprechende Bilder zu erzeugen als Antwort auf die großen Bilder, die El Kaida erzeugt hatte. Es geht hier um kulturelle Kriegsführung und Propaganda – ein Festbrennen der Ikonographie.

Sollten diese Bilder abschreckend wirken?

Sicherlich. Allerdings sollten auch die zugrundeliegenden Handlungen abschrecken. Nach dem Motto: „Wir kriegen euch überall, selbst dort, wo ihr euch sicher fühlt.” Es stellt sich aber die Frage, ob man Terroristen überhaupt abschrecken kann. Die Gewaltspirale immer weiter eskalieren zu lassen, ist Hauptziel und auch Kommunikationsform terroristischer Anschläge. Es geht darum, den von Terror betroffenen Staaten die Maske der Zivilisation vom Gesicht zu reißen.

Die USA liefen also Gefahr, in eine Falle zu tappen, die die Terroristen für sie ausgelegt hatten. Insbesondere, wenn die Kriegsführung in Afghanistan und Irak dann den Ansprüchen nicht genügte, die man sich selbst gestellt hat, und so eher die Bevölkerung verschreckt und abstößt.

Wie würden Sie sagen, hat der 11. September die Außenpolitik der USA verändert?

Er hat sie stärker militarisiert. Das heißt nicht, dass die USA nach Vietnam besonders friedlich gewesen wären. Schon unter Reagan fand eine gewisse Remilitarisierung statt.

Reagan war allerdings klug genug, immer Ziele anzugreifen, die komplett unterlegen waren. Zum Beispiel Grenada oder Panama. Diese Konflikte konnte man innerhalb einer Woche führen und ging als Sieger hervor. Mit Afghanistan und dem Irak hat sich das verschoben. Man hat sich einem Krieg hingegeben, in dem ein Sieg eigentlich ausgeschlossen war.

Wieso ausgeschlossen?

Es scheitert schon an der Zielsetzung. Wie sollte ein Sieg in Afghanistan oder Irak definiert werden? Die militärischen Auseinandersetzungen gewinnt man natürlich, aber totale Kontrolle konnten die Amerikaner nie bekommen. Das ist die Lehre, die man bereits aus der asymmetrischen Kriegsführung in Vietnam ziehen konnte. Sowohl in Afghanistan als auch im Irak fehlt zudem der Anknüpfungspunkt im Land. Im zweiten Weltkrieg hatten die jeweils besiegten Gesellschaften vor dem Krieg mehr oder minder funktionsfähige parlamentarische Systeme, mit denen die Bevölkerung vertraut war und auf die die Siegermächte aufbauen konnten.

Präsident Joe Biden

Im August 2021 startete Präsident Biden den Abzug amerikanischer Truppen aus Afghanistan. Ein Ende des „war on terror“ ist jedoch noch nicht in Sicht.

© IMAGO / ZUMA Wire / Michael Reynolds

Welche Verantwortung haben die USA nach dem Abzug noch in Afghanistan?

Verantwortung ist vielleicht der falsche Begriff. Die USA brauchen vor allem erst ein Konzept, wie sie mit der islamischen Welt umgehen wollen. Das sehe ich bei Biden im Moment nicht und auch bei Trump habe ich das nicht sehen können. Der Plan der Demokratisierung vom Leuchtturm Irak aus war nie realistisch.

Auch die Unterstützung des Arabischen Frühlings 2011 und 2012 ist auf lange Frist gescheitert. Selbst in Tunesien bröckelt die Demokratie jetzt. Die Amerikaner hatten nicht damit gerechnet, dass in Ägypten und anderen Ländern Islamisten frei gewählt an die Macht kommen würden.

Was hindert die USA daran, ein solches Konzept zu entwickeln?

Da sind Mechanismen im Gang, die man aus westlicher Perspektive nicht begreifen kann oder nicht begreifen will, weil das sonst hieße, dass man sich über den aggressiven Charakter des eigenen Systems und der eigenen Werte von Liberalismus, Kapitalismus und Demokratie klar werden müsste. Diese Werte sind aggressiv, weil sie traditionale Gesellschaften notwendigerweise nicht als gleichberechtigt anerkennen.

Das können Sie in der Populärkultur wunderbar verfolgen, wenn Sie sich die verschiedenen Staffeln von Raumschiff Enterprise ansehen, um ein ganz banales Beispiel zu bringen. Da gibt es die berühmte erste Direktive: Wir mischen uns nicht ein. Das ist ganz klassisch liberal. Aber immer, wenn Individuen in ihrer Freiheit bedroht sind, mischt man sich trotzdem ein und macht das mit allerbestem Gewissen auch um den Preis der Zerstörung der indigenen Gesellschaften. Das zieht sich ganz konsequent durch die Serie und ist das Problem eines universalistischen Werteansatzes.

Ist der Export westlicher Werte dann zum Scheitern verurteilt?

Vietnam hat gezeigt, dass man in gewisser Weise auch nach dem Konflikt einen Krieg noch gewinnen kann. 15 Jahre nach dem Vietnamkrieg sehen wir dort eine ausgesprochen kapitalistische Gesellschaft. Zwar nicht sehr demokratisch, aber auch nicht mehr so brutal wie in den 1970er-Jahren.

Eine vielversprechendere Strategie wäre es, auf Techniken zu setzen, die man in der Politologie Systempenetration nennt. Sogenannte Soft Power. Der Westen hat eine sehr attraktive Populärkultur. Er hat ein sehr attraktives Wirtschaftssystem für Menschen, die gerne reicher werden möchten und nach oben mobil sind. Das könnte man beispielsweise befördern, statt ständig mit militärischen Mitteln einzugreifen.

Während des Abzugs der Amerikaner sind nun noch einmal 13 amerikanische Soldaten gestorben. Birgt das ein Potenzial für eine erneute Eskalation?

Es wird wahrscheinlich immer wieder partiell zu Eskalationen kommen. Das liegt ja auch im Interesse von ISIS, die für die Anschläge am Flughafen von Kabul verantwortlich sind. Im Gegensatz zu den Taliban, die nun erst einmal auf Afghanistan fokussiert sind, will ISIS global operieren. Also müssen sie den Amerikanern immer wieder Nadelstiche versetzen und umgekehrt werden die Amerikaner antworten müssen. Die Frage ist, wie begrenzt sie antworten wollen.

Wie das aussehen könnte, sieht man zum Beispiel, wenn man nach Israel blickt. Dort lässt Israel den Konflikt permanent vor sich hin köcheln. Auf Provokationen eskaliert man für eine Zeit die Gewalt und nimmt sich dann wieder zurück. Ich nehme an, dass die Amerikaner ein ähnliches System entwickeln werden. Im Zuge dessen werden die USA aber auch schnell für sich definieren müssen, welche roten Linien nicht überschritten werden dürfen, welcher Verteidigungsperimenter unbedingt gehalten werden muss. Das wäre zum Beispiel Pakistan. Man stelle sich einmal vor, dass Pakistan mit der Atombombe endgültig in islamistische Hände fallen würde. Davor haben die Amerikaner vermutlich berechtigt Angst.

Michael Hochgeschwender ist Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Geschichte der USA in der Antebellums- und Bürgerkriegsepoche sowie in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg.

„Amerika verstand, dass es verletzlich war“ : Lesen Sie auch das Interview mit Professor Christof Mauch über die Reaktionen in den USA auf die Anschläge und wie sich die amerikanische Gesellschaft verändert hat.

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