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Ein neuer Sound

12.01.2018

Pop und Politik, der Kampf gegen Rassismus, den Vietnamkrieg – und die Elterngeneration. Der Amerikanist Michael Hochgeschwender skizziert, wie in den 60ern von den USA aus der Protest zum Lebensgefühl wurde.

Für die 68er in der Bundesrepublik gilt die Auseinandersetzung mit der in den Nationalsozialismus verstrickten Elterngeneration als ein wichtiger, wenn nicht der Motor der Bewegung. Was befeuerte den Protest der 60er-Jahre in den USA? Hochgeschwender: Der Protest war eine Reaktion auf den Konformismus und Materialismus der Elterngeneration, auf die Gesellschaft der 1950er-Jahre, in der sich alle gleich verhalten haben: antikommunistisch, wachstums- und konsumorientiert – und das vor dem Hintergrund der nuklearen Bedrohung. Angst und Wohlstand – das haben viele Jugendliche nicht zusammengebracht. Und erstmals haben sich die Jugendlichen in den USA als eine Jugend begriffen und nicht nur als Kinder ihrer Eltern. Sie entwickelten eine eigene Jugendkultur, angetrieben interessanterweise durch denselben Konsum, den sie abgelehnt haben. Dazu kamen verschiedene politische Auslöser: die schwarze Bürgerrechtsbewegung, die auch weiße College-Kids erfasste, und natürlich der Vietnamkrieg.

Wie kommt es, dass der Protest der Bürgerrechtler ausgerechnet in den 1960er-Jahren einen Höhepunkt fand? Der schwarze Protest begann ja schon in den 1950er-Jahren. Dass der Funke aber auch auf die Weißen übersprang, hing vor allem mit der medialen Verbreitung zusammen. Erstmals waren die nationalen Sender präsent und man konnte in den Abendnachrichten sehen, wie brutal die Polizei im Süden agierte, wenn sie zum Beispiel Schäferhunde auf schwarze Schulkinder hetzte. Das führte zur Solidarisierung der College-Studenten, die in relativ großer Zahl in den Süden strömten und den Rassismus dort miterlebten. Diese Studenten erkannten aber auch bald, dass sie anders dachten als die stark vom Klerus der Black Church beherrschte schwarze Bürgerrechtsbewegung im Süden um Martin Luther King und all die anderen; sie rückten politisch deutlich nach links. Von 1964 an gab es die sogenannten Hot Summer – mit gewaltsamen Aufständen in den schwarzen Ghettos auch des Nordens, die zum Teil von der Nationalgarde niedergeschlagen wurden. Und es gab die Wut über die Morde an den demokratischen Symbolfiguren John F. Kennedy, Martin Luther King und Robert Kennedy. Die Massaker an der Kent State University (Ohio) und der Jackson State University in Mississippi, bei denen Studenten von der Nationalgarde erschossen wurden, radikalisierten die Bewegung dann noch einmal.

1968 – in Vietnam begann das Jahr mit einer Offensive des Vietcong, die vielen Amerikanern den Stellvertreterkrieg im Fernen Osten noch einmal fragwürdiger erscheinen ließ und den Protest weiter anheizte. Ja, die Tet-Offensive machte den Amerikanern noch einmal klar, dass der Krieg in Vietnam sich nicht gewinnen ließ, auch wenn die US-Army den Vorstoß zurückschlug und militärisch weiterhin die Szene beherrschte. Aber der Vietcong hatte die Botschaft in Saigon angreifen können, er hatte die Städte Hue und Da Nang erobert – trotz ungeheurer technischer Überlegenheit der US-Truppen. Die hatten bis zu einer halben Million Soldaten in Vietnam, sie haben mit Napalm das Land in Schutt und Asche gelegt, sie haben zweieinhalb Mal mehr Bomben auf Vietnam abgeworfen, als während des gesamten Zweiten Weltkriegs fielen.

Welche Rolle spielten die Studenten bei den Protesten? Und was war an den Universitäten los? Die Studenten waren ja vom Vietnamkrieg gar nicht direkt betroffen; sie wurden nicht eingezogen. Es sind nur ganz wenige nach Vietnam gegangen, meist dann auch freiwillig. Es gibt Leute, die etwas bösartig sagen, und das ist nicht völlig falsch, dass 68 in den USA ein Klassenkampf von oben war: Kinder wohlhabender Eltern, die nicht nach Vietnam mussten, protestierten gegen den Krieg, während auf der anderen Seite Polizisten aus Arbeiterfamilien standen, deren Kinder in Vietnam kämpften. Und das war natürlich ein Clash, der lange Zeit gerne unterschätzt worden ist. Auch haben die Demonstranten die Polizei mitunter bewusst provoziert, damit sie ihre Gummiknüppel auspackten und gewalttätig wurden.

Aber womit begannen die Studentenproteste? Anfangs ging es tatsächlich vor allem um universitäre Themen, um Mitsprache auf dem Campus und bei den Lehrinhalten, um das Recht auf freie Rede wie in Berkeley 1964. Man darf nicht vergessen, dass amerikanische Universitäten die Aufsicht für die oft minderjährigen Studenten hatten, das Alter für Volljährigkeit lag ja bei 21. Es war also zunächst ein Protest gegen die Bevormundung. Die Studenten wollten Marx lesen und andere kommunistische Theoretiker, sie wollten über die aktuelle Situation in der Welt sprechen. Das sind die ersten Forderungen auch im Umfeld der Students for a Democratic Society, des amerikanischen SDS, der ja zunächst die Jugendorganisation einer konventionell-linken Bewegung war, sich erst später zum Kommunismus bekannte und abspaltete. Das Ganze radikalisierte sich, als nicht mehr die sogenannten Red Diaper Babies, Studenten aus kommunistischen Elternhäusern, den Ton angaben, sondern Mittelklasse-Jugendliche aus den Suburbs der Städte im Mittelwesten, die zu Zehntausenden in den SDS strömten. Denen ging es weniger um eine Ideologie, sondern um Aktivismus vor allem gegen den Vietnamkrieg und – um Rabatz.

1968 – das Jahr steht ja auch, wenn man so will, für eine Globalisierung des Protestes. Was ließ die Welle über die Welt schwappen? Es gibt strukturelle Gründe: Diese Generation der Babyboomer war eine Alterskohorte, die erstmals eine sehr behütete Kindheit in materiellem Wohlstand hatte. Auch stand das Kind im Zentrum der Familie; das wiederum hängt mit psychoanalytischen Theorien zusammen, die damals im Schwange waren. Und das war im Grunde im ganzen Westen so: Es wuchs eine idealistische Generation heran, zum Teil sehr elitär, die dann aufstand gegen das, was sie als das Vorgestrige der Elterngeneration empfand. In Deutschland hatte das viel mit dem Nationalsozialismus zu tun, in den USA nicht. Aber auch dort ist die Frage, wenn Sie an Filme wie Denn sie wissen nicht, was sie tun denken: Wo sind unsere Väter, wo sind die Vorbilder? Ihr habt keine Ideen mehr, sondern nur noch Konsum, das war der Vorwurf an die Eltern, der parallel in all diesen Gesellschaften auftauchte. In Frankreich kam dann auch noch hinzu, dass die Studenten Zugang zu den Schlafräumen der Studentinnen haben wollten. Das war einer der zentralen Punkte, die den Mai 68 in Frankreich auslösten. Die Forderung mag sich zunächst nach einer Kleinigkeit anhören, aber Fragen von Sexualität und sexueller Selbstbestimmung spielten in den Bewegungen eine große Rolle, auch in den USA.

Wer waren da die Vorkämpfer? Durch die Pille und durch Penicillin gab es viel mehr Möglichkeiten, seine Sexualität auszuleben als vorher. Aber was sich änderte, war im Wesentlichen die weibliche Sexualität, die männliche blieb relativ gleich. Anfang der 60er-Jahre waren die SDSler in den USA noch relativ prüde, sie haben fast asketisch gelebt. Erst im Laufe der Zeit kam die Idee der sexuellen Befreiung auf. Das führt dann aber auch dazu, dass die Frauen in der Bewegung zunehmend unzufrieden waren, weil sie tatsächlich nur als Sexualobjekte wahrgenommen wurden. Irgendwann haben sich die Frauen das nicht mehr bieten lassen, sie reklamierten eigene Vorstellungen und eigene Ziele. Und das ist etwas, das langfristig wie überall viel bedeutender war als alles andere, das die studentische Protestbewegung der 60er-Jahre auf die Reihe gekriegt hat. Wenn heute für Deutschland immer gesagt wird, 68 habe die Bundesrepublik liberalisiert, dann muss man vorsichtig sein, diesem Mythos zu folgen. Die Studentenbewegung wollte eine linke Bundesrepublik, keine liberale. Die Liberalisierung war, wenn man so will, ein Kollateralschaden von 68. Vollzogen hat sie sich vor allem auf der Ebene der sexuellen Befreiung der Frau. Das ist bis heute viel wirksamer als das Ideengut, sagen wir, des Kommunistischen Bundes Westdeutschland. Davon ist nun nicht wirklich viel geblieben.

Popmusik hat den Protest stets begleitet: War das in den USA mehr als ein Soundtrack der Bewegung? Musik ist ganz zentral, Musik gab das Lebensgefühl der jungen Leute wider. Schauen Sie sich einen Film wie Die Reifeprüfung an, der von der Sprachlosigkeit dieser Generation handelt; der Film lebt von der Musik von Simon & Garfunkel. Es gab unzählige Bands, es gab das Festival in Woodstock als ganz zentrales Erlebnis dieser Generation. Musik deutete aber auch schon an, wenn etwas zuende ging: Woodstock zeigte eine Kommerzialisierung des Musikbetriebes, dem sich nur wenige entzogen. Und beim Festival in Altamont prügelten und erstachen Hells Angels, die als Ordner engagiert waren, vor der Bühne einen Mann, weil er schwarz war und eine weiße Freundin mitgebracht hatte. All das, während die Stones ihr Konzert spielten. Da sieht man, dass auch die ganze Ideenwelt der Bewegung an den fundamentalen Problemen der USA, allem voran dem Rassismus, nichts änderte.

Die Musik von Simon & Garfunkel ist ja nun gerade herzlich unpolitisch. Ja, aber es gibt auch stärker politische Musik, wenn man sich etwa den Gitarristen Jimi Hendrix ansieht, wie er bei seinem Woodstock-Auftritt die amerikanische Nationalhymne im Gekreische und Gedröhne von Rückkopplungen untergehen lässt. Auch die Stones haben durchaus politische Titel gemacht. Und daneben gab es ja noch die alte Folktradition: Pete Seeger, Phil Oaks, Joan Baez, die ganz klar Stellung bezogen; bis zu einem gewissen Grade tat dies auch Bob Dylan. Schon der Rock’n’Roll der 50er-Jahre hatte gesellschaftspolitische Implikationen – als Absetzbewegung von den Vorlieben der Eltern. Insofern war Musik schon immer eng verknüpft mit politischer Bewusstwerdung, ohne dass die Musik nun selbst politische Inhalte transportieren musste. Und was den Grad der Politisierung angeht, gab es in den USA (und auch in Deutschland) ja deutliche Unterschiede zwischen dem SDS etwa und der Counterculture, den Hippies. Während Mitglieder des SDS mitunter noch lange mit kurzgeschorenen Haaren in Anzug und Krawatte herumliefen und Kampflieder der Arbeiterbewegung sangen, hatte für die Hippies Musik noch einmal eine ganz andere Bedeutung. Die beiden Zweige der Bewegung trafen sich zwischen 1967 und 1969, um dann wieder auseinanderzulaufen. Schon früh hatte das Hippietum einen spirituellen Aspekt, später kamen Teile auf ihrer intimen, privaten Sinnsuche erst bei der Jesus-lebt-Bewegung der 1970er an und landeten dann mitunter sogar bei den Evangelikalen.

Beim Europaimport der Popkultur entstand ja eine merkwürdige Dialektik: Die Musik war uramerikanisch, gleichzeitig aber Ausdruck einer Gegenkultur mit einer gehörigen Portion Antiamerikanismus. Wie ging das zusammen? Die deutschen und auch die französischen Studenten übernahmen ja sogar die Formen des Protestes von den amerikanischen Strömungen: Sit In und Teach In etwa. Und der Antiamerikanismus hatte eine andere Qualität als etwa in der Anti-Nachrüstungsbewegung Anfang der 80er-Jahre oder der Anti-Irakkriegs-Bewegung Anfang der Nullerjahre. Es ist eher, wenn man so will, ein Antiamerikanismus aus enttäuschter Zuneigung. Schließlich waren die meisten durch ihre Sozialisation in den 1950er-Jahren mit einem unglaublich idealistischen Amerikabild aufgewachsen; die USA hatten danach Freiheit und Wohlstand gebracht. Und nun erlebte diese junge Generation, was im Süden der USA passierte und in Vietnam. Und das brachte sie nicht zusammen.

Prof. Dr. Michael Hochgeschwender ist Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie am Amerika-Institut der LMU.

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