Sind Depressionen schon bei Kindern und Jugendlichen ein häufiges Phänomen? Gerd Schulte-Körne: Bei Kindern sind sie eher selten, im Grundschulalter trifft es zwischen ein und zwei Prozent. Im Jugendalter sind sie stärker verbreitet. Und nach der Pubertät nimmt die Häufigkeit dann rapide zu. Ob die Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen heute insgesamt häufiger auftritt, lässt sich aufgrund der Datenlage nicht eindeutig beantworten. Aber der Kinder- und Jugendsurvey, eine nationale Erhebung in Deutschland, zeigt tatsächlich eine gewisse Zunahme unter weiblichen Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 18, so wie es aussieht aber eher von leichten Depressionen. Sicher spielen da viele Faktoren eine Rolle, hierzu gehören individuelle Belastungen als auch traumatische Ereignisse. Was wir häufig erleben, ist, dass Jugendliche heute mit Stress schlechter umgehen können als früher. Außerdem haben sich die Umweltbelastungen für Jugendliche deutlich verändert, in der Schule und auch im Freizeitbereich, bei der Nutzung von sozialen Medien etwa. Und mit der heute längeren Adoleszenzphase stellt sich auch der Autonomie- und Ablösungsprozess vom Elternhaus anders dar als noch vor zehn Jahren.
Ein internationales Team unter der Leitung des Max-Planck-Institutes für Psychiatrie in München und Ihrer Klinik hat jetzt einen sogenannten genetischen Risikoscore entwickelt, mit dem Sie das Erkrankungsrisiko für Depression voraussagen können. Wie funktioniert das? Letzten Endes bildet der Score ein umfangreiches Set von genetischen Informationen ab. Dabei handelt es sich um Varianten im Genom, meist nur kleinste Abweichungen, die zusammengenommen ein bestimmtes Merkmal oder eine Erkrankung, in diesem Fall die Depression, vorhersagen. Diese genetischen Veränderungen einzeln tragen nur wenig bei, in der Summe jedoch bilden sie einen Score, der insgesamt das genetische Risiko des Betroffenen abbildet. Dieser Score wurde ursprünglich an einer sehr großen Stichprobe von Erwachsenen mit einer depressiven Erkrankung ermittelt und mit einer Kontrollgruppe abgeglichen. Die zentrale Frage unserer Untersuchung war, ob dieser genetische Score auch für Kinder und Jugendliche relevant ist und sich deshalb dafür eignet, auch bei ihnen das Erkrankungsrisiko zu ermitteln. Die Ergebnisse bestätigen genau dies. Um diesen Fortschritt einordnen zu können, muss man sagen, dass man gerade bei der Depression Jahrzehnte lang gesucht hat, um überhaupt genetische Faktoren zu finden. Dass dies so lange nicht gelang, liegt wahrscheinlich daran, dass Depression eine Erkrankung mit vielen Gesichtern ist, mit so vielen Facetten, sodass genetische Mechanismen nur auf gewisse Symptome Einfluss haben, sich damit aber nicht die Komplexität dieser Erkrankung insgesamt erklären lässt.
Wie kann man feststellen, dass der Score auch bei Kindern aussagekräftig ist? Wir haben eine große Stichprobe von Kindern und Jugendlichen mit einer Depression mit einer Kontrollgruppe verglichen und den Zusammenhang zwischen der Belastung mit depressiven Gedanken und Emotionen und diesem genetischen Score untersucht. Lässt sich ein Zusammenhang finden, handelt es sich ja zunächst erst einmal nur um eine einfache Korrelation. Darum versucht man im nächsten Schritt zu ergründen, ob dahinter auch eine Kausalität steckt. Wir haben außerdem untersucht, ob zusätzlich auch belastende Lebenserlebnisse in der frühen Kindheit diesen Zusammenhang beeinflussen, und ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der genetischen Disposition und der Schwere der Erkrankung oder auch dem Ersterkrankungsalter. Wenn der genetische Score relevant ist, führt das im letzten Fall dazu, dass Kinder, die ein Risiko für eine Depression haben, unter Umständen früher erkranken.
Was genau lässt sich mit diesem Score ablesen und mit welcher Sicherheit? Das variiert ein bisschen in den Stichproben. In der klinischen Stichprobe fanden wir jedoch sehr eindrucksvoll, dass der Score acht Prozent der depressiven Störung bei Kindern und Jugendlichen erklärt. Und wenn man belastende Umweltereignisse oder belastende Ereignisse aus der Lebensgeschichte mit berücksichtigt, dann kommt man schon auf fast 18 Prozent der depressiven Symptomatik, die dadurch erklärt werden kann. Und das ist ein relativ hoher Wert. Im Grunde allerdings geht es uns erst einmal darum, ein Ursachenmodell der Depression zu entwickeln und zu verstehen, wie genetische Faktoren, individuelle Belastungen und Umweltfaktoren zusammenwirken.
Prof. Dr. med. Gerd Schulte-Körne ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LMU.
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