„Entspannt euch!“
06.05.2019
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin plädiert für einen „digitalen Humanismus“: Mit KI lassen sich wirkmächtige technologische Werkzeuge entwickeln – nicht mehr und nicht weniger.
06.05.2019
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin plädiert für einen „digitalen Humanismus“: Mit KI lassen sich wirkmächtige technologische Werkzeuge entwickeln – nicht mehr und nicht weniger.
Sie haben sich schon öffentlich gefragt, ob Digitalisierung und künstliche Intelligenz dereinst als die Motoren einer Innovation gelten werden, die ebenso wichtig ist wie die Sesshaftwerdung in der Jungsteinzeit oder die Industrialisierung. Haben Sie da schon eine Vorstellung, ob das zutreffen kann? Nida-Rümelin: Im Augenblick reden alle von disruptiver Innovation. Die Digitalisierung ist disruptiv, sie verändert alles, sie beeinflusst ja schon sämtliche unserer Lebensformen. Wer Kinder hat, kann davon ein Lied singen. Aber aus streng wissenschaftlich-ökonomischer Sicht, was viele nicht hören möchten, ist sie eine große Enttäuschung. Seit zehn, zwölf Jahren läuft jetzt bereits die dritte Welle der Digitalisierung, eine Digitalisierung via Plattformökonomie gewissermaßen – und das wirklich Enttäuschende ist: Die Produktivitätsentwicklung hat gleichzeitig, einen historischen Tiefstand erreicht.
Aber es werden damit doch Milliarden verdient. Ja, aber das beruht weniger auf Wertschöpfung, denn auf Wertverschiebung. Denken Sie an eine Plattform wie Uber, die hat jetzt Einnahmen, die vorher die Taxifahrer hatten. Viele Angebote, die die großen Internet-Konzerne machen, zerstören andere Formen ökonomischer Wertschöpfung. Dass die Digitalisierung keinen nennenswerten gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt gebracht hat, auch gerade in einem Land wie den USA mit ihrer Silicon-Valley-Ökonomie, sollte uns Europäern zu denken geben. Wir sollten uns überlegen, wie wir die digitalen Technologien in die produktiven Kerne der Ökonomie bekommen. Deutschland ist auf die Innovationskraft der mittelständischen Wirtschaft angewiesen, es ist das einzige Land der Welt, in dem es dieses merkwürdige Phänomen der Hidden Champions gibt, mittelständischer und kleiner Unternehmen, die Weltmarktführer bei jeweils hochspezialisierten Produkten sind, sie sind Treiber der Innovation. Und gerade die tun sich oft schwer mit der Digitalisierung.
Sie nennen Digitalisierung und künstliche Intelligenz in einem Atemzug. Stellt die KI eine Art End- oder Fluchtpunkt der Digitalisierung dar? Unter künstlicher Intelligenz wird manchmal alles gefasst, was mit digitalen Technologien bestimmte Denkvorgänge simuliert. Im engeren Sinne versteht man heute darunter sogenannte selbstlernende Software-Systeme. Das Ergebnis ist oft sehr beeindruckend vor allem im Bereich der Mustererkennung. Sie ist allerdings das „One trick pony“ im Moment. Aus den extremen Fortschritten in diesem Bereich aber zu schließen, solche Systeme könnten prognostizieren, könnten einschätzen, könnten bewerten, könnten in diesem Sinne menschliche Deliberation ersetzen, dafür spricht gar nichts. Sie können menschliche Deliberation simulieren und unterstützen. Das ist auch sehr wichtig, und es wird hoffentlich weitere Fortschritte auf diesem Gebiet geben. Aber: Eine im Wortsinne künstliche Intelligenz wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Ohne Intentionen, ohne mentale Zustände gibt es keine Intelligenz. Es gibt nur Simulationen von Intelligenz. Da bin ich mir mit vielen einig, nicht gerade mit den Public-Relations-Abteilungen von Google, aber mit Software-Entwicklern immer.
Trotzdem werden Digitalisierung und KI die Lebenswelt weiter umkrempeln. Ja, sie werden unseren Alltag massiv verändern. Das hängt aber nicht nur von der Technologie und ihrer Eigendynamik ab, sondern auch von der Art und Weise, wie wir davon Gebrauch machen. Ein Beispiel: In einem der Forschungsprojekte an meinem Lehrstuhl ging es um die Frage, in welchem Umfang digitale Technologien eingesetzt werden dürfen, um Anreize für gesundheitsbewusstes Leben zu geben. Und darum, ob Versicherungsunternehmen die Höhe ihrer Beiträge von der Konformität mit diesen gesundheitsbewussten Regeln abhängig machen dürfen. Wir haben uns am Ende dagegen ausgesprochen. Wenn man es zuließe, würde das einen ökonomisch motivierten Eingriff in unser Verhalten bedeuten. Ein anderes Beispiel: Vor allem in Japan ist der Einsatz von Pflegerobotern bei alten Menschen sehr weit gediehen, und das ist durchaus nicht nur negativ zu bewerten. Viele Japanerinnen und Japaner wollen das, weil sie sagen: Ich möchte nicht, dass wildfremde Menschen mir so nahekommen, wie das nötig ist, wenn man pflegebedürftig ist. Auf der anderen Seite gibt es diese Fehlentwicklung, möglichst menschenähnliche Maschinen zu schaffen. Humanoide Roboter sind zum Teil mit zwei Augen ausgestattet und gehen auf zwei Beinen, was alles technisch überhaupt keinen Sinn macht. Sie imitieren das Menschliche, reagieren auf mündliche Ansprache und könnten, wenn das so weitergeht, irgendwann die Suggestion vermitteln: Hier ist jemand, der mir die Einsamkeit nimmt, der mich versteht, mit dem ich kommunizieren kann. Doch wir Menschen erschaffen keine Personen, zumindest nicht mit technischen Mitteln. Die Digitalisierung macht uns nicht zu Gott, den Homo Deus wird es nicht geben.
Die produktiven Kerne der Wirtschaftsentwicklung: Um welche Bereiche geht es da? Es geht darum, die industrielle Produktion in intelligente und vernetzte Systeme einzubinden und so eine umfassende digitale Steuerung nicht nur einzelner Produktionsschritte, sondern über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg zu schaffen. Das ist für die deutsche Industrie ein großes Thema und lässt massive Produktivitätsfortschritte erwarten. Nicht von ungefähr ist die „Industrie 4.0“ eine deutsche Erfindung, der Ausdruck stammt ausnahmsweise mal nicht aus den USA. Das bedeutet aber auch, dass gerade mittelständische Unternehmen, die nicht selbst große IT-Abteilungen aufbauen können, entsprechende Unterstützung und Beratung finden sollten.
Wohin geht denn die Reise, technologisch gesehen? Das Beispiel, das immer wieder gerne zitiert wird, ist das autonome Fahren. Schon vor Jahren habe ich die damaligen Prognosen, der Individualverkehr werde in ein paar Jahren bereits voll-automatisiert ablaufen, für falsch gehalten. Mittlerweile hat die Skepsis allgemein deutlich zugenommen. Die fahrerlose U-Bahn und andere Formen des autonom gesteuerten Personennahverkehrs sind in großem Umfang realisierbar, womöglich auch der Fernverkehr über die Autobahnen. Das alles aber würde komplexe Planungsprozesse nötig machen. Davor steht nicht nur die Frage, wie wir in Zukunft unser privates Automobil verwenden wollen, sondern die größere, wie wir in Zukunft leben wollen. Wollen wir gemischte Verkehrssysteme in den Städten, wo Kinderwagen, Fahrräder, Mopeds und herkömmliche Autos zusammen mit den mit Software aufgerüsteten Fahrzeugen unterwegs sind? Oder wollen wir getrennten Verkehr? Wie sollen unsere Städte aussehen? Ungeklärt ist auch, wie sich die Frage der Verantwortung regeln lässt. Die EU-Kommission beispielsweise plädiert dafür, eine sogenannte E-Person im Recht zu etablieren. Autonome Software-Systeme bekämen dann eine Art rechtliche Verantwortung, neben dem Nutzer und dem Produzenten. Doch wie soll die wahrgenommen werden? Ins Gefängnis kann man Software-Systeme nicht stecken. Wir sollten uns darauf schon deswegen nicht einlassen, weil es die Suggestion befördert, es handele sich um Personen, die Verantwortung wahrnehmen können. Dabei handelt es sich schlicht um technische Tools, die wir einsetzen. Verantwortlich dafür sind wir.
Sie sind als Ethiker bei einer ganzen Reihe von staatlich eingesetzten Einrichtungen dabei, die die Entwicklung der Digitalisierung der künstlichen Intelligenz befördern sollen. Wie ist denn da so die Stimmung? Ich bin in die beiden neu gegründeten bayerischen Institutionen involviert, in das Zentrum Digitalisierung Bayern (ZD.B) und das Bayerische Forschungsinstitut für digitale Transformation (BIDT), das an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt ist. In beiden Einrichtungen ist der Optimismus sehr ausgeprägt, dass sich die Digitalisierung entwickeln lässt, trotz aller Hindernisse, Widerstände und allem Misstrauen gegenüber den Big Four beziehungsweise Five, wenn man Microsoft mitzählt, im Datengeschäft, einer nicht ganz unberechtigten Sorge um den Verlust der Kontrolle darüber, was mit den eigenen Daten geschieht. Und trotz auch einer weiteren Sorge: Schaffe ich unter Umständen meinen eigenen Arbeitsplatz ab, wenn ich an der Digitalisierung in meinem Unternehmen mitwirke? Es gibt ja viele Studien, die einen Verlust von fast der Hälfte aller Arbeitsplätze prognostizieren. Vieles aber spricht dafür, dass es nicht so kommen wird. Sicher wird sich die Arbeit verändern, es werden andere Erwartungen an die Mitarbeiter gestellt, andere Kompetenzen verlangt. Aber es wird wie schon bei früheren technologischen Revolutionen per saldo keinen Verlust von Arbeit geben. In den 1980er-Jahren ging die Furcht um, die Automatisierung werde Menschen in der Fabrik überflüssig machen. Heute sind die Fertigungshallen in der Tat recht leer geworen, trotzdem beschäftigt die Kfz-Industrie mehr Menschen als je zuvor.
Was muss die Politik aus Ihrer Sicht tun, um das Ruder in der Hand zu behalten? Es wäre sicher falsch, von der Politik zu erwarten, dass sie die Digitalisierung steuert. Dazu ist das ein zu komplexer Prozess, der von wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen getrieben ist. Die Politik wird nicht das richten können, was die Wirtschaft in Europa nicht hinbekommen hat, nämlich eine echte Konkurrenz zum Silicon Valley und zu Alibaba aufzubauen, der chinesischen Konkurrenz. Aber sie könnte immerhin eine Fehlentwicklung des amerikanischen Modells in Europa korrigieren: die Einrichtung der digitalen Kommunikations-Infrastruktur einfach der Privatwirtschaft überlassen zu haben mit dem Ergebnis, dass heute Monopole regieren, die einen Konkurrenten nach dem anderen aufkaufen. Jedes Start-up, das eine halbwegs plausible Geschäftsidee hat, ist sofort geschluckt. Es entsteht keine echte marktliche Konkurrenz. So gesehen wird der Mobilfunkstandard zum Lackmus-Test. Schafft es die Politik hier, eine digitale Infrastruktur mit eigenen Ressourcen zu etablieren? Das wäre eine Kraftanstrengung Europas wert, des nach wie vor größten Wirtschaftsraumes der Welt.
Wie beeinflusst der gegenwärtige Diskurs um KI das Menschenbild und das Verhältnis des Menschen zur Maschine? Ich plädiere für einen digitalen Humanismus: Die Botschaft könnte lauten: Entspannt euch! Sie richtet sich an diejenigen, die glauben, mit künstlicher Intelligenz schaffen wir neue Gegenüber, ebenso wie an diejenigen, die fürchten, neue Identitäten könnten uns eines Tages unterjochen. Es ist alles lediglich Simulation, es ist ein Spiel mit Puppen – in einer gegenwärtigen Phase der Verkindlichung gewissermaßen, des kulturellen Rückfalls. Wir Europäer müssen uns von dieser kindlichen Ideologie lösen, die allerdings tief in die gängige Silicon-Valley-Rhetorik eingelassen ist.
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der LMU.