„Es entsteht eine neue Dienstmädchenkultur“
09.02.2015
Von schlecht bezahlten Care-Berufen und dem Export von Nannys: Ein neuer Forschungsverbund untersucht, wie sich Fürsorgeleistungen in unserer Gesellschaft aktuell verändern.
09.02.2015
Von schlecht bezahlten Care-Berufen und dem Export von Nannys: Ein neuer Forschungsverbund untersucht, wie sich Fürsorgeleistungen in unserer Gesellschaft aktuell verändern.
Das Bayerische Wissenschaftsministerium fördert den Forschungsverbund ForGenderCare mit mehr als drei Millionen Euro. Ein Interview mit Paula-Irene Villa, Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie/Gender Studies an der LMU und Sprecherin von ForGenderCare, über die Fragestellungen des Forschungsvorhabens.
Das Bayerische Wissenschaftsministerium stuft Care als eine „zentrale gesellschaftliche Herausforderung“ ein. Was macht das Thema so relevant?
Paula-Irene Villa: Fürsorgetätigkeiten – wie man den englischen Fachbegriff Care übersetzen kann – sind gesellschaftlich unverzichtbar. Sie sind ein integraler Bestandteil gesellschaftlicher Reproduktion. Seit Ende des 18. Jahrhunderts ist Care wesentlich weiblich und als Privatsache konnotiert. Aber das ändert sich gerade. Gegenwärtig ist weltweit, in Deutschland und auch konkret in Bayern nicht mehr so klar, wer für Fürsorge zuständig ist.
Woran liegt das?
Villa: Die Frauen- und Müttererwerbstätigkeit nimmt seit einigen Jahrzehnten beständig zu, die Lebensarbeitszeit dehnt sich aus und der demografische Wandel fordert Traditionen heraus. Insbesondere die Erwerbstätigkeit ist nicht nur eine Frage von Selbstverwirklichung, sondern auch von ökonomischen Zwängen. In einer Stadt wie München zum Beispiel müssen meist beide Elternteile arbeiten, um eine Familie ernähren zu können. Das in der westdeutschen Gesellschaft bislang vorherrschende Modell des „Male Breadwinners“, also des männlichen Alleinverdieners, und der „Female Caregiver“ funktioniert auf vielen Ebenen nicht mehr. Man kann heute nicht mehr ungefragt davon ausgehen, dass sich nur Frauen gänzlich um die Kinder oder um ihre Eltern oder Schwiegereltern kümmern, wenn diese pflegebedürftig werden.
Wer kümmert sich dann? Die Männer?
Villa: Es war politischer Wille und auch, wie wir aus vielen Studien wissen, die erklärte Absicht vieler Männer, dass Väter mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Durch die Regelungen der Elternzeit ist der Anteil der Väter, die zeitweise aus dem Beruf aussteigen, gestiegen. In Bayern ist die Quote der Väter, die Elternzeit nehmen, bundesweit am höchsten. Warum das so ist und welche Auswirkungen das hat, das wird eine der Forschungsfragen im Verbund sein. Neben familienpolitischen Maßnahmen ändert sich Care auch dadurch, dass die Care-Tätigkeiten seit Jahrzehnten zunehmend professionalisiert werden. Und das aus guten Gründen: Eltern und Angehörige achten auf die Qualität der Betreuung, die Gesellschaft schaut genauer in die Einrichtungen. So werden neue Studiengänge eingerichtet, und das Thema Qualitätsmanagement in den Einrichtungen gewinnt an Bedeutung. Und nicht zuletzt werden Medien und Technologien in Care-Tätigkeiten immer wichtiger: Pflegeroboter oder spezielle Handys für ältere Menschen sind nur zwei Beispiele dafür.
Wer sich beruflich für eine Tätigkeit im Bereich Care interessiert, stellt schnell fest, dass die Gehälter in Berufen wie Erzieher oder Altenpfleger nicht sehr hoch sind. Warum ist das so?
Villa: Care-Berufe sind weit unter Wert bezahlt. Historisch ist Care schlichtweg unbezahlte Arbeit – „Arbeit aus Liebe, Liebe als Arbeit“, wie die Historikerinnen Barbara Duden und Gisela Bock das 1977 nannten. Tätigkeiten in der Fürsorge galten und gelten noch als haushaltsnah und wurden Frauen zugeschrieben, weil sie ihrer vermeintlich natürlichen Begabung entsprachen. Im Rahmen des Forschungsverbunds wollen wir unter anderem klären, was Care heute umfasst und wie diese Tätigkeiten bezahlt werden sollten. Momentan ist die Bezahlung vor allem stark in der Diskussion, weil es, gerade in Großstädten mit hohen Lebenshaltungskosten, teilweise fast unmöglich ist, überhaupt Personal zu bekommen. Das ist auch in Bayern ein drängendes Problem.
Statt die Betreuung auszulagern und Personal dafür zu bezahlen, könnte man doch gleich die privaten Fürsorgeleistungen zu Hause honorieren?
Villa: Lohn für Hausarbeit ist eine alte Forderung der Frauenbewegung, die noch aus der Jahrhundertwende stammt und dann in den 1980er-Jahren wieder verstärkt formuliert wurde. Es gibt einige sozialpolitische Stellschrauben, an denen in dieser Richtung bereits gedreht wurde. Dazu gehört zum Beispiel die Anrechnung von Kindererziehungszeiten auf die Renten. Damit wird Eltern ihre Leistung in der Erziehungsarbeit finanziell anerkannt. Es wäre natürlich nicht finanzierbar, auf einmal alle Care-Aufgaben im Privaten angemessen zu bezahlen. Aber es gibt andere, radikale Modelle, in denen das denkbar wird, zum Beispiel beim bedingungslosen Grundeinkommen. Im Forschungsverbund werden wir mit Akteuren aus Politik, Verbänden und der Praxis über ganz verschiedene Reformmöglichkeiten diskutieren.
Momentan lösen viele Familien die Betreuung von Kindern oder kranken Angehörigen, indem sie selbst jemanden zu Hause dafür engagieren.
Villa: Es entsteht seit einigen Jahren eine neue Dienstmädchenkultur, ähnlich wie im 19. Jahrhundert. Die Beschäftigung von Personen, die in privaten Haushalten arbeiten, wie Au-pairs, Kinder- und Putzfrauen nimmt stark zu. Es entstehen sogenannte „Global-Care-Chains“: Einige Länder wie die Philippinen haben sich zu regelrechten Exporteuren von Care-Arbeit entwickelt. Frauen aus Mexiko oder den Philippinen arbeiten in den USA, in Singapur oder Großbritannien als „Nannys“ und lassen dafür ihre eigenen Kinder zurück. Diese werden dann von anderen Frauen versorgt. Die philippinischen Nannys stellen mit ihren Geldüberweisungen aus dem Ausland einen wesentlichen Anteil des Bruttosozialprodukts des Landes. In Deutschland ist diese Entwicklung nicht ganz so stark. Aber in Süddeutschland lässt sich zum Beispiel beobachten, dass zunehmend Frauen aus Kroatien in privaten Haushalten arbeiten. In Berlin pendeln vor allem Polinnen wochenweise in die Stadt. Hier ist eine starke Schattenwirtschaft entstanden. Gerade im Bereich der Pflege älterer Menschen arbeiten viele Migrantinnen sehr prekär in Deutschland. Auch über diese Entwicklung von Care muss sich die Gesellschaft verständigen und Regeln dafür finden. Das löst sich nicht von selbst. Und es beinhaltet eine systematische Form der Ausbeutung, die sehr bedenklich ist.
Der Forschungsverbund ForGenderCare
Die Geschäftsführung von ForGenderCare wird am Lehrstuhl für Soziologie/Gender von Paula-Irene Villa an der LMU eingerichtet. Sprecherinnen sind Professor Villa und Professor Barbara Thiessen von der HAW Landshut. Das bayerische Wissenschaftsministerium fördert den Forschungsverbund mit mehr als drei Millionen Euro. An ForGenderCare sind acht Universitäten bzw. Hochschulen und zahlreiche außeruniversitäre Forschungseinrichtungen mit zwölf Teilprojekten aus unterschiedlichen Fachrichtungen beteiligt. Themen sind unter anderem der Einsatz von Pflegerobotern, die Arbeitsbedingungen in der Pflege, „fürsorgliche Führung“ im Management und die Darstellung von Care in Schulbüchern.