Europawahl: „Es steht viel auf dem Spiel“
06.05.2024
Die EU steht vor großen Herausforderungen. Die Wahl wird zeigen, inwiefern ihre Bürgerinnen und Bürger sie dabei unterstützen: Interview mit Politologe Berthold Rittberger.
06.05.2024
Die EU steht vor großen Herausforderungen. Die Wahl wird zeigen, inwiefern ihre Bürgerinnen und Bürger sie dabei unterstützen: Interview mit Politologe Berthold Rittberger.
Am 9. Juni 2024 ist Europawahl in Deutschland. Im Interview spricht Berthold Rittberger, Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen an der LMU, über demokratische Kontrolle der Europäischen Union und aktuelle innen- und außenpolitische Herausforderungen.
Die EU ist, verglichen mit anderen internationalen Organisationen, einzigartig, da sie in sehr vielen Politikbereichen sehr viele Kompetenzen besitzt. Dafür bedarf es eines besonderen Maßes an demokratischer Kontrolle.Berthold Rittberger
Anfang Juni ist Europawahl: Welche Rolle spielt die demokratische Kontrolle in der EU?
Berthold Rittberger: Sie spielt eine immer wichtigere Rolle. Die EU ist, verglichen mit anderen internationalen Organisationen, einzigartig, da sie in sehr vielen Politikbereichen sehr viele Kompetenzen besitzt. Dafür bedarf es eines besonderen Maßes an demokratischer Kontrolle. Diese findet einmal statt durch die Mitgliedstaaten und die Regierungen, die ja von ihren Bevölkerungen indirekt gewählt sind. Aber es gibt auch den zweiten Weg: über das Europäische Parlament. Jede Bürgerin und jeder Bürger Europas kann über das Parlament mitbestimmen und die Entscheidungsträger in Brüssel, im Rat und der Kommission, demokratisch kontrollieren.
Warum ist die EU heute für so vieles zuständig? Als sie 1952 gestartet ist, ging es ja nur um den Handel mit Kohle und Stahl.
Die Zielsetzung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl war einerseits sehr eng auf diese beiden Sektoren begrenzt. Auf der anderen Seite war sie sehr weit. Man wollte Stabilität und Frieden in Europa sichern, indem man den Gegner, der so viel Unheil über die Welt gebracht hat, nämlich Deutschland, eng in ein Bündnis einbindet. Das hat den Staaten damals sehr viel abverlangt, nämlich politische Entscheidungsrechte auf eine supranationale Ebene zu übertragen. Von daher war Europa zwar ein wirtschaftliches Projekt, aber ein zentrales Ziel war die Einbindung Deutschlands und die Stabilisierung Westeuropas gegenüber dann dem Warschauer Pakt und dem Ostblock. Der Traum der Föderalisten von den Vereinigten Staaten von Europa und einem Abgesang auf den Nationalstaat war bereits Ende der 1950er weitgehend ausgeträumt. Durchgesetzt haben sich die Funktionalisten, die meinten, man muss über konkrete Probleme versuchen, Europa stärker zu integrieren. Das Naheliegendste war, einen gemeinsamen Markt zu schaffen, um die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln.
Die EU ist heute weit mehr als der gemeinsame Markt. Wie kam es dazu?
Die EU ist an den eigenen Integrationsschritten weitergewachsen, weil sie Folgeprobleme verursacht hatten, die dann wiederum durch mehr Integration gelöst wurden.
Vom gemeinsamen Markt, auf dem Güter frei über die Grenzen kommen, kam man zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Sie impliziert, dass Menschen, die innerhalb der EU umziehen, auch bestimmte soziale Anspruchsrechte haben. Es entwickelte sich ein freier Markt, der gleichsam stark reguliert wurde: Es gibt gemeinsame Standards für Konsumenten-, Gesundheitsschutz und Umweltschutz, auch um Wettbewerbsvorteile für Länder zu vermeiden, die diese absenken.
Die Integration des Marktes hatte auch Sogwirkung auf andere Politikbereiche, die auf den ersten Blick erst einmal wenig mit wirtschaftlicher Integration zu tun haben. Fallen im Inneren des Binnenmarktes die Grenzen, braucht es einen besseren Schutz der Außengrenzen, eine engere Zusammenarbeit von Justiz und Polizei über die EU-Binnengrenzen hinweg.
Auch die gemeinsame Währung wurde als ein Instrument geschaffen, das aus wirtschaftlicher Sicht integrierend wirken sollte. Allerdings braucht es dafür auch eine gemeinsame Fiskalpolitik, die die EU nicht hat. Erst infolge der Eurokrise wurde der europäische Stabilitätsmechanismus geschaffen, was der EU ein gewisses Maß an fiskalischer Schlagkraft gab.
Inzwischen wird die EU oft nur anhand ihrer Krisen wahrgenommen. Woran liegt das?
Die Eurokrise 2008 war sicher eine Zäsur. Schon davor hatte sich in der Qualität der europäischen Beziehungen etwas geändert. Seit den 1990er-Jahren ist aus dem Marktprojekt ein politisches Projekt geworden. Damit einher gingen Fragen, die den Kern nationaler Souveränität betreffen: die Einführung des Euro, die Aufwertung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Fragen von Asyl- und Migrationspolitik. Diese Fragen haben den EU-Integrationsprozess zunehmend politisiert. Über die EU wird öffentlich gestritten.
Durch die Krisen gab es weitere Politisierungsschübe, die nicht zuletzt europaskeptische und nationalistisch-populistische Parteien ausgenutzt haben, um gegen die EU mobil zu machen. Dabei wird häufig übersehen oder unterschlagen, dass die EU zwar zunehmend Funktionen übertragen bekommen hat und sie zwar viele Entscheidungsbefugnisse hat, aber oft überhaupt nicht über die materiellen und finanziellen Kapazitäten verfügt, um effektive Krisenpolitik zu betreiben. Ohne die Mitgliedstaaten gibt es keinen Euro-Stabilitätsmechanismus, keinen Corona-Hilfsfonds, keine finanzielle Unterstützung für Waffenlieferungen an die Ukraine, keinen Solidaritätsmechanismus für die Verteilung von Geflüchteten in der EU.
Die EU ist eine wirtschaftliche Großmacht, aber als sicherheitspolitischer Akteur kommt sie auf dem internationalen Parkett nicht zum Tragen.Berthold Rittberger
Vor welchen Herausforderungen steht die EU in den nächsten Jahren?
Die EU steht vor großen Herausforderungen. Nach innen gerichtet ist es die Problemlösungsfähigkeit der EU selbst. Die Staaten müssen der EU die Möglichkeit geben, besser aktiv auf Krisen reagieren zu können. Das impliziert eine Ausweitung ihrer materiellen und finanziellen Kapazitäten.
Die zweite Baustelle ist die Außenpolitik: Die EU ist eine wirtschaftliche Großmacht, aber als sicherheitspolitischer Akteur kommt sie auf dem internationalen Parkett nicht zum Tragen. Wir sehen gerade beim Krieg in Nahost, dass sich die EU sehr schwer tut, mit einer Stimme zu sprechen. Wohingegen, wenn die EU-Kommission in Wirtschafts- und Außenhandelsfragen spricht, sie für alle 27 spricht.
Gerade in der neuen geopolitischen Umwelt, die dadurch geprägt ist, dass die USA sich stärker auf sich selbst fokussieren, wird die EU sehr viel stärker zusammenrücken müssen, um außenpolitisch auf ihre Umwelt einwirken zu können. Das sehen wir am Beispiel der Ukraine. Die EU scheint alleine nicht in der Lage zu sein, das Nötige zu tun, damit sich die Ukraine gegen die russische Invasion behaupten kann.
Wenn die EU als sicherheitspolitischer Akteur einflussreich sein möchte, muss sie ihre eigene Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch ohne die USA denken und danach handeln können. Darauf muss die EU schnell eine Antwort finden, sonst gerät sie geopolitisch ins Hintertreffen gegenüber aufsteigenden Großmächten, wie China, oder revisionistischen Mächten, wie Russland.
Müssten dafür neue Strukturen geschaffen werden?
Zum einen müsste man diskutieren, inwiefern in der Außen- und Sicherheitspolitik das Einstimmigkeitsprinzip aufgebrochen werden kann, das die EU daran hindert, schnell und resolut bei externen Gefahren reagieren zu können. Und EU-Staaten müssten von der Möglichkeit differenzierter Integration stärker Gebrauch machen. Sprich, um in bestimmten Fragen gemeinsam voranzugehen, müssten nicht immer alle Staaten gleich mitziehen oder die Vorreiter bremsen.
Die europäische Integration begann mit sechs Ländern. Heute hat die EU 27. Zählt die EU-Erweiterung für Sie ebenfalls zu den Herausforderungen?
Ja, und das hängt zusammen mit der Problemlösungsfähigkeit nach innen: Wie groß kann die EU noch werden? In die EU wollen viele Staaten des West-Balkans, die Ukraine, Moldawien. Die EU muss sich darüber klar werden, wie man bei den bestehenden Strukturen mit 30 oder noch mehr Mitgliedern handlungsfähig bleibt. Selbst dort, wo Mehrheitsentscheidungen gelten, ist es oft sehr schwierig, Lösungen zu finden. Wo Einstimmigkeit gilt, wie in der Außen- und Sicherheitspolitik, wird es noch schwieriger.
Es geht bei dieser Wahl um viel. Das Europäische Parlament hat mitzureden beim Beschluss, ob ein Land der EU beitreten darf. Es ist in allen wirtschaftlichen und bei vielen Zukunftsfragen wichtig, die uns als Bürgerinnen und Bürger umtreiben, wie Klima und Migration.Berthold Rittberger
Warum sollten EU-Bürgerinnen und -Bürger also wählen gehen?
Es geht bei dieser Wahl um viel. Das Europäische Parlament hat mitzureden beim Beschluss, ob ein Land der EU beitreten darf. Es ist in allen wirtschaftlichen und bei vielen Zukunftsfragen wichtig, die uns als Bürgerinnen und Bürger umtreiben, wie Klima und Migration. Die spannende Frage ist, wie das Parlament mitredet.
Europaskeptische Parteien werden versuchen, europäische Lösungen zu verhindern, sodass mehr auf nationalstaatlicher Ebene geschieht.
Auch ob ich als Bürger eine Partei wähle, die eher rechts- oder linksorientiert ist, hat Auswirkungen. Das Europäische Parlament kann zum Beispiel die ambitionierten Klimaziele der Kommission bekämpfen, wenn sich nach der Wahl eine Mehrheit dafür im Parlament findet.
Für diejenigen, denen Klimaschutz wichtig ist, ist die Stimme, die man im Juni abgibt, enorm bedeutend. Genauso für diejenigen, denen der Klimaschutz zu weit geht.
Sie gehen auch wählen?
Ja! Wenn es um die Einflussnahme auf die wichtigen tagespolitischen Themen geht, die viele Menschen umtreiben, ist es wahrscheinlich eine bedeutendere Wahl als viele, die wir sonst noch in diesem Jahr in Deutschland haben. Man wäre ein Tor, wenn man diese Möglichkeit auslassen würde.
Berthold Rittberger ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen am Geschwister-Scholl-Institut der LMU. Er forscht insbesondere zur Dynamik der europäischen Integration und Fragen der demokratischen Kontrolle. In der Beck-Reihe „Wissen“ hat er das Buch „Die Europäische Union“ veröffentlicht, das in die EU und ihre Funktionsweise einführt.
Europäisches Parlament: Europawahl 2024
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