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Geheime Struktur im Schaltplan des Gehirns

14.10.2022

Forschende entdecken eine verborgene Ordnung in scheinbar zufälligen Verbindungen zwischen Nervenzellen.

Im Gehirn entsteht unsere Wahrnehmung durch ein komplexes Zusammenspiel von Nervenzellen, die über Synapsen miteinander verbunden sind. Dabei kann die Anzahl und Stärke der Verbindungen zwischen bestimmten Neuronen-Typen variieren. Forschende der LMU, des Universitätsklinikums Bonn (UKB) und der Universitätsmedizin Mainz haben nun zusammen mit einem Team vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt herausgefunden, dass die Struktur der scheinbar unregelmäßigen neuronalen Verbindungsstärken eine verborgene Ordnung enthält. Dies ist essenziell für die Stabilität des neuronalen Netzwerkes.

Vor zehn Jahren wurde die Konnektomik, also die Erstellung einer Karte der Verbindungen zwischen den etwa 86 Milliarden Nervenzellen im Gehirn, als zukünftiger Meilenstein der Wissenschaft festgelegt. Denn in komplexen neuronalen Netzwerken sind die Neurone durch Tausende von Synapsen miteinander verbunden. Dabei ist die Verbindungsstärke zwischen den einzelnen Neuronen wichtig, da sie für das Lernen und die kognitive Leistung entscheidend ist. „Jede Synapse ist jedoch einzigartig und ihre Stärke kann im Laufe der Zeit schwanken. Selbst bei Experimenten, bei denen derselbe Synapsen-Typ in derselben Hirnregion gemessen wurde, ergaben sich unterschiedliche Werte für die synaptische Stärke. Diese experimentell festgestellte Variabilität macht es jedoch schwierig, allgemeine Prinzipien zu finden, die der robusten Funktion neuronaler Netzwerke zugrunde liegen", erklärt Professorin Tatjana Tchumatchenko, Forschungsgruppenleiterin am Institut für Experimentelle Epileptologie und Kognitionsforschung des UKB sowie an der Universitätsmedizin Mainz, die Motivation, die Studie durchzuführen.

Nervenzellen im visuellen System der Maus

Nervenzellen im visuellen System der Maus

Ziel der gemeinsamen Arbeit der Labore Busse und Tchumatchenko war es, mithilfe eines mathematischen Modells neuronaler Netzwerke und der Antworten der Nervenzellen auf visuelle Reize die Verbindungen zwischen den neuronalen Zelltypen zu bestimmen. Im Bild zu sehen sind genetisch markierte, hemmende Nervenzellen (grün).

© UKB & LMU / Dr. Nataliya Kraynyukova; Dr. Simon Renner

Mathematik und Labor zielführend kombiniert

Im primären visuellen Kortex (V1) werden die vom Auge über den Thalamus, eine Schaltstelle für Sinneseindrücke im Zwischenhirn, weitergeleiteten visuellen Reize erst einmal aufgenommen. Die dabei aktiven Verbindungen zwischen den Neuronen schauten sich die Forschenden im Rahmen der Studie genauer an. Die Forschenden haben dazu experimentell die gemeinsame Antwort von zwei Neuronenklassen auf verschiedene visuelle Reize im Maus-Modell gemessen. Gleichzeitig nutzten sie die Möglichkeit, mit mathematischen Modellen die Stärke synaptischer Verbindungen vorhersagen zu können. Zur Erklärung ihrer im Labor aufgezeichneten Aktivitäten solcher Netzwerkverbindungen im primären visuellen Kortex verwendeten sie das sogenannte „Stabilisierte Supralineare Netzwerk“ (SSN). „Es ist eines der wenigen nichtlinearen mathematischen Modelle, das die einzigartige Möglichkeit bietet, theoretisch simulierte Aktivität mit der tatsächlich beobachteten zu vergleichen", sagt Professorin Laura Busse, Forschungsgruppenleiterin an der Neurobiologie der LMU. „Wir konnten zeigen, dass die Kombination von SSN mit experimentellen Aufzeichnungen visueller Reaktionen im Thalamus und Kortex der Maus die Bestimmung verschiedener Sätze von Verbindungsstärken ermöglicht, die zu den aufgezeichneten visuellen Reaktionen im visuellen Kortex führen."

Reihenfolge zwischen den Verbindungsstärken ist der Schlüssel

Die Forschenden fanden heraus, dass sich hinter der beobachteten Variabilität der Synapsenstärke eine Ordnung verbirgt. So waren zum Beispiel die Verbindungen von erregenden zu hemmenden Neuronen immer die stärksten, während die umgekehrten Verbindungen im visuellen Kortex schwächer ausfielen. Die absoluten Werte der synaptischen Stärken variierten in der Modellierung – wie schon in den früheren experimentellen Studien –, behielten aber trotzdem immer eine gewisse Reihenfolge bei. Die relativen Verhältnisse sind also entscheidend für den Verlauf und die Stärke der gemessenen Aktivität und nicht die absoluten Werte. „Es ist bemerkenswert, dass die Analyse früherer direkter Messungen der synaptischen Verbindungen die gleiche Reihenfolge der synaptischen Stärken ergab wie unsere Modell-Vorhersage, die allein auf gemessenen neuronalen Antworten beruht", sagt Simon Renner, Neurobiologe an der LMU, dessen experimentelle Aufzeichnungen der kortikalen und thalamischen Aktivität eine Charakterisierung der Verbindungen zwischen den kortikalen Neuronen ermöglichten. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die neuronale Aktivität viele Informationen über die zugrundeliegende Struktur neuronaler Netzwerke enthält, die sich aus direkten Messungen der Synapsenstärken nicht unmittelbar erschließen. Damit eröffnet unsere Methode eine vielversprechende Perspektive für die Untersuchung von Netzwerkstrukturen, die experimentell nur schwer zugänglich sind", erklärt Nataliya Kraynyukova vom Institut für Experimentelle Epileptologie und Kognitionsforschung des UKB sowie Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt.

Nataliya Kraynyukova, Simon Renner, Gregory Born, Yannik Bauer, Martin Spacek, Georgi Tushev, Laura Busse und Tatjana Tchumatchenko. In vivo extracellular recordings of thalamic and cortical visual responses reveal V1 connectivity rules. PNAS, 2022.

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