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„Ich forsche tatsächlich überall, wo ich gerade bin“

13.03.2023

Karen Radner ist Expertin für das Assyrische Reich, das einst das kulturelle Zentrum der Welt war. Im Interview erläutert die LMU-Forscherin, was sich von der untergegangenen Kultur und der Organisation ihres Reichs lernen lässt.

Warum ist es wichtig, sich heute mit dem alten Assyrien zu beschäftigen?

Karen Radner: Als man die assyrische Geschichte im 19. Jahrhundert wiederentdeckte, die ersten Funde aus dem Nordirak nach Europa brachte und die Keilschrift lesbar wurde, hat man Assyrien vor allem im Kontext des Alten Testaments und als Zerstörer Israels und Bedrohung Jerusalems gesehen. Dieser Staat hat sich schwergetan, sein schlechtes Image loszuwerden, und das ist bis heute so. Die Wenigsten kennen Assyrien überhaupt, aber wenn, dann sind die Assoziationen noch immer sehr stark von der Bibel beeinflusst.

Was viele nicht wissen: Assyrien war ab dem 9. Jahrhundert vor Christus ein Imperium, das in der Lage war, viele Probleme geografischer und klimatischer Natur zu überwinden. Diese Probleme gibt es auch heute, und sie führen dazu, dass der Vordere Orient stark zergliedert ist: Es gibt Wüsten, hohe Gebirge, sehr ausgeprägte Jahreszeiten.

Mich interessiert, wie man in diesem großen Staat kommuniziert, wie man Macht delegiert hat. Insofern ist Assyrien interessant für alle, die wissen möchten, wie Betriebe oder Organisationen funktionieren, die groß und komplex sind. Deshalb tausche ich mich zum Beispiel gerne mit Wirtschaftswissenschaftlern aus und bin der Meinung, dass man von den Lösungen, die die Assyrer für die Organisation ihres Reichs entworfen haben, durchaus profitieren kann.

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2:19 | 09.03.2023

Wie kam dieses mächtige Imperium zu Fall?

Assyrien ist in den letzten Jahren des 7. Jahrhunderts vor Christus zugrunde gegangen. Das assyrische Königreich wurde von den Medern und den Babyloniern erobert. Es gibt bis heute keinen Nachfolger des assyrischen Staates auf politischer Ebene. Dennoch war der Einfluss von Assyrien strukturell gesehen massiv auf alle späteren Staatsgebilde, die diese großen Dimensionen haben.

Wo finden Ihre Forschungsarbeiten statt?

Ich forsche tatsächlich überall, wo ich gerade bin. Am allerliebsten natürlich vor Ort im Irak, in Syrien, in der Osttürkei oder im Westen Irans. All diese Gebiete waren Teil des Assyrischen Reichs. Ich verbringe sehr viel Zeit mit Feldforschungen und war auch im letzten Jahr fünf Mal im Irak, um die Ausgrabungen in Assur – der Stadt, die dem Assyrischen Reich ihren Namen gab – wieder aufzunehmen. Die Kernregion des alten Assyrien liegt im heutigen Nordirak und in Syrien. Über beide wird heute in den Medien im Grunde nur unter dem Aspekt des Krisengebiets berichtet, doch dies wird der historischen Rolle der Region nicht gerecht. Die Gebiete waren zur Blütezeit des Assyrischen Reichs das intellektuelle und kulturelle Zentrum der Welt.

Prof. Dr. Karen Radner

Professorin Karen Radner

ist viel auf Feldforschungen unterwegs, aktuell vor allem im Irak und damit im Gebiet des untergegangenen Assyrischen Reichs.

© Stephan Höck / LMU

Welchen Fokus setzen Sie bei den Ausgrabungen?

Assyrien war eine sozial sehr stark differenzierte Gesellschaft mit deutlichen Hierarchien. Natürlich gibt es Königspaläste, die man ausgraben kann, aber ich arbeite am allerliebsten zur Wohnarchitektur. Denn obwohl es so unterschiedliche soziale Gruppen gibt, haben alle Menschen ja dieselben Grundbedürfnisse. Im Assyrischen Reich zum Beispiel hatte jedes Haus ein Badezimmer – was ja nicht selbstverständlich ist – und man konnte vor Ort Brot backen. Und das traf auf jedes Haus zu – egal ob es 25 Quadratmeter groß war oder 3000.

Zudem fällt auf, dass es sehr wenig Möbel gab: Die einzigen Menschen in Assyrien, die zum Beispiel einen Fußschemel benutzen durften, waren der König und die Königin. Bestimmte Gegenstände waren exklusiv nur den allerhöchsten Spitzen der Gesellschaft vorbehalten. Wir sehen hier also einen ganz anderen Umgang mit Konsum, als dies heute der Fall ist. Dies zeigt beispielhaft, wie die assyrische Gesellschaft funktionierte, und wirft auch Fragen auf, wie unsere Gesellschaft heute funktioniert.

Uns sollte klar sein: Es gibt immer Alternativen dazu, wie wir als Gesellschaft leben.

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Leibniz-Preis für LMU-Forscherin Karen Radner

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Worum geht es bei Ihrem aktuellen Forschungsprojekt?

Seit dem Frühling letzten Jahres habe ich als Leibniz-Preisträgerin die Möglichkeit, ein großes Projekt zu beginnen: Wir werden die Ausgrabungen in der assyrischen Hauptstadt Assur wieder aufnehmen und die sogenannte Neustadt von Assur ausgraben, eine Stadt, die im dritten Jahrtausend vor Christus schon Bestand hatte und am westlichen Ufer des Tigris lag.

Im 9. Jahrhundert vor Christus wurde im Süden der Stadt ein Neubaugebiet errichtet. Diese Neustadt ist für mich auch deswegen interessant, weil sie zu einem Zeitpunkt gegründet wurde, als Assur gerade nicht mehr die Hauptstadt des Reichs war. König Assurnasirpal II. hatte den Regierungssitz von Assur nach Kalchu – das heute auch Nimrud genannt wird – verlegt. Die Stadt Assur verlor damals wichtige Kompetenzen, blieb aber weiterhin die Kulthauptstadt des Assyrischen Reichs, weil in Assur der einzige Tempel des gleichnamigen Gottes Assur war. Warum man diese Neustadt damals gegründet hat, ist unklar.

Heute ist unser Projekt zugleich eine Art Rettungsgrabung, da erneut ein Staudamm am Tigris gebaut werden könnte, der dann den Wasserstand erhöhen und die Neustadt bedrohen wird. Obwohl es momentan wieder heißt, dass dieser Damm nun doch nicht errichtet wird, bleibt die Gefahr weiter bestehen, denn die Trockenheit im Zentralirak ist ein großes Problem.

Was planen Sie für die aktuelle Grabungskampagne?

Vor Ort werden wir viele Proben nehmen. Darunter wird Holzkohle sein, Zähne von Menschen, Tierknochen, paläobotanische Proben und vieles mehr. Das wird uns helfen, ein sehr viel genaueres Bild von den Lebensumständen der Leute in Assur vom 9. bis ins späte 7. Jahrhundert vor Christus zu entwickeln, als es bislang möglich war.

Professorin Karen Radner ist Inhaberin des Alexander von Humboldt-Lehrstuhls für die
Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens.

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