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Im Fragmentarium

29.07.2019

Enrique Jiménez nutzt künstliche Intelligenz, um dreitausend Jahre alte Texte wiederherzustellen.

Manchmal entscheidet ein einziges Zeichen darüber, ob die Arbeit stockt. Der Altorientalist Enrique Jiménez arbeitet daran, die Anfänge der Weltliteratur zu rekonstruieren. In Mesopotamien entstanden einst die ersten Hochkulturen der Menschheit. Etwa ab 2500 Jahre vor Christus entwickelte sich eine reiche literarische Tradition, die zweisprachig war: Texte wurden in sumerisch und akkadisch in Keilschrift auf Tontafeln geschrieben. Das Problem für Wissenschaftler wie Jiménez: Die Texte sind lediglich in Fragmenten überliefert, manche nur wenige Zentimeter groß. Die Herausforderung ist, genau jene Stücke zu identifizieren, die zusammengehören, da das Schreibsystem mehrdeutig ist und die Lesart vom Kontext abhängt. „Es ist unglaublich irritierend, wenn man die Arbeit an einem Text aufgeben muss, weil ein einziges Zeichen fehlt und man weiß, dass es irgendwo ein Fragment gibt, das genau in diese Lücke passt.“

Enrique Jiménez hat sich zum Ziel gesetzt, diese Lücken zu schließen und setzt dabei auf künstliche Intelligenz. Für sein Vorhaben wurde er mit dem Sofja Kovalevskaja-Preis ausgezeichnet. Mit dem Programm unterstützt die Alexander von Humboldt-Stiftung den wissenschaftlichen Nachwuchs dabei, innovative Forschungsprojekte an einer Forschungseinrichtung ihrer Wahl zu verwirklichen. Jiménez hat sich für die LMU entschieden, wo er nun sowohl am Institut für Assyriologie arbeitet als auch am Lehrstuhl für Alte Geschichte und dort die Arbeitsgruppe „Electronic Babylonian Literature“ aufbaut. Das Team hat bereits begonnen, eine Datenbank zu erarbeiten, in die alle Textfragmente, soweit sie digitalisiert vorliegen, aufgenommen und transkribiert werden. Seit Projektbeginn im Mai 2018 wurden bereits 8000 Fragmente erfasst. „Ich hoffe, dass wir bis zum Ende dieses Jahres bei 15.000 sind. Dann wird man die Datenbank nach allen bislang unpublizierten Fragmenten aus der Bibliothek von Assurbanipal in einer Sekunde durchsuchen können.“

40.000 Tafeln aus dem British Museum Der assyrische Herrscher Assurbanipal hatte vor etwa 2700 Jahren in der Stadt Ninive eine Bibliothek aufgebaut, um dort alles Wissen seiner Zeit zu sammeln. Nach seinem Tod wurde sie im Jahr 612 vor Christus von Eroberern zerstört und all ihre Bestände wurden zerschlagen. Heute lagert der Großteil der bislang gefundenen Tonfragmente im British Museum in London. Etwa die Hälfte sind bislang noch nicht erfasst – eine Arbeit, die Enrique Jiménez im Rahmen seines Projekts in Kooperation mit dem Museum leisten wird. Von Mai an werden zwei Mitarbeiter die restlichen Tontafelsammlungen aus dem British Museum fotografieren und damit den Digitalisierungsprozess beginnen. In den nächsten fünf Jahren sollen den Forschern 40.000 Fotografien von Keilschrifttafeln zur Verfügung gestellt werden.

Jiménez nutzt seit Jahren die Möglichkeiten, die die digitalen Medien in seinem Forschungsfeld eröffnen. Anfangs hat er noch selbst einfache Datenbanken programmiert, inzwischen arbeitet er mit Informatikern zusammen. An der Yale University etwa war der Altorientalist am Cuneiform Commentaries Project beteiligt, in dessen Zuge Kommentarliteratur aus Mesopotamien online publiziert wurde. Auch Jiménez wird seine Ergebnisse über eine Webseite zugänglich machen. Momentan geht es noch darum, das Programm das akkadische Lexikon zu lehren und ihm alle möglichen Lesarten eines Zeichens beizubringen. „Unser Ziel ist es, dass das Programm Zeichensequenzen erkennt und automatisch in einer Textstelle mit den passenden Wörtern in Verbindung bringt. Für einen Computer ist es viel einfacher, das zu tun als für einen Menschen. Ein Computer kann alle Lesarten gleichzeitig in Betracht ziehen und neue Fragmente automatisch mit bereits erfassten Texten abgleichen.“ Zunächst geht es darum, Texte zu vervollständigen und wiederherzustellen. Geplant sind jedoch bereits Übersetzungen in mehrere Sprachen, neben dem Englischen auch ins Deutsche und Arabische.

Texte, die seit der Antike niemand gelesen hat In seiner Forschung konzentriert sich Jiménez auf literarische Texte, die im ersten Jahrtausend vor Christus im Gebiet des heutigen Irak zirkulierten – „eine Zeit, in der die akkadische Literatur eine Blüte erlebte“ – und auf Texte, die eine poetische Struktur haben. Im Rahmen seines Projekts wird Jiménez einen Textkorpus von etwa 10.000 Zeilen bearbeiten. Dafür arbeitet er auch mit Dr. Anmar A. Fadhil von der Universität Bagdad zusammen, die literarische Tafeln aus der berühmten nordbabylonischen Bibliothek von Sippar verwahrt. Der Historiker Berossus, der im vierten und dritten Jahrhundert vor Christus lebte, liefert folgende Vorgeschichte der Bibliothek: Bevor er in die Arche stieg, habe der babylonische Noah sämliche Schriften der mesopotamischen Tradition in der Stadt Sippar vergraben, um sie vor der drohenden Sintflut zu bewahren, als er hörte, dass die Flut bevorstand. Der Ort lag nahe der heutigen Stadt Bagdad, die Bibliothek wurde erst im Jahr 1986 entdeckt. Zu dem Korpus zählen das babylonische Weltschöpfungsepos „Enuma eliš“ – „ein sehr schöner Text“, wie Jiménez sagt – und die Flutgeschichte. „Diese Literatur ist einerseits sehr anders als das, was wir heute kennen. Aber zugleich gibt es viele Parallelen, auch thematisch. Wir werden mit den irakischen Kollegen die wichtigsten literarischen Tafeln publizieren. Eine davon ist ein Fragment aus dem Gedicht des Leidenden Gerechten, des babylonischen Hiob.“

In dem Gedicht wird ein gerechter Mann gestraft. Etwa in der Mitte des Textes wird der Mann erst bestraft und dann begnadigt, wobei ihm die Begnadigung durch Träume übermittelt wird. Durch die Zuordnung eines kleinen Fragments, das in der Bibliothek in Sippar entdeckt wurde, ist es den Altorientalisten gelungen, diese wichtige Stelle in dem Gedicht erstmals zu rekonstruieren. „Wir konnten nun die Traumpassage entschlüsseln. Seit 2000 Jahren konnte sie niemand lesen. Wir haben damit einen Text wiederhergestellt, der schon in der Antike ein Klassiker war, und können ihn so in die Moderne bringen.“

Auch Tonfragmente, die eine Hymne an den babylonischen Gott Marduk enthalten, konnte Enrique Jiménez zusammenführen. „Die Texte, die ich im Rahmen meines Projekts bearbeite, sind Poesie. Im Akkadischen bestehen sie aus zwei halben Versen und einer Zäsur in der Mitte, was man beim Lesen deutlich hört. Es ist sehr schwierig, diese poetische Struktur ins Deutsche zu übersetzen.“ In wissenschaftlichen Publikationen werden die Texte in der Regel wortwörtlich ins Englische übersetzt. Enrique Jiménez hat das wieder zusammengesetzte Fragment ins Deutsche übertragen, sodass sich nun folgende Zeilen lesen lassen (die neu ergänzten Zeilen sind kursiv dargestellt):

Marduk, deine Wut ist wie eine gewaltige Flut,

Aber morgens tröstet deine Gnade den Bestraften,

Der heftige, wütende Wind hat sich beruhigt,

Wo die Wellen spielten, sind die Ufer jetzt friedlich,

Die dunkle finstere Wolke hast du erleuchtet.

Wo der Glutwind wehte, klärst du den Tag.

Durch die Arbeit an den Texten erfahren die Wissenschaftler viel über den Alltag in Mesopotamien – sei es über Gegenstände, die üblicherweise in Gebrauch waren, oder das soziale Miteinander. So wird in dem Gedicht des Leidenden Gerechten etwa beschrieben, wie der Mann aufwacht und mit seinen Begleitern spricht – was zeigt, dass er einen Diener hatte und es zu dessen Aufgaben zählte, ihn zu wecken.

„Auch von ihrer Funktion her ist die babylonische Literatur von unserer gar nicht so weit entfernt“, sagt Jiménez. So wurden die Klassiker nicht nur immer wieder kopiert, weil sie etwa in der Schule als Übungen verwendet wurden, um Schreiben und Lesen zu lehren. Das Weltschöpfungsepos wurde traditionell Anfang des Jahres zum Neujahresfest vorgetragen. Und den babylonischen Klassikern widerfuhr ein Schicksal, wie es auch heute noch manchen alten Werken zuteilwird: Sie wurden parodiert. „Anhand der Parodien sieht man, welches Verhältnis die Menschen in Mesopotamien zu ihren eigenen Traditionen hatten. Zum Beispiel wurde eine Zeile des Gedichts des Leidenden Gerechten leicht modifiziert, um sie lächerlich zu machen. Wir haben heute eine ähnliche Beziehung zu unseren literarischen Traditionen. Einerseits gibt es einen großen Respekt vor den Klassikern, zugleich kann man mit ihnen spielen.“

Gerade bei den Parodien gibt es jedoch sehr viele Lücken, weil die Tontafeln in viele Stücke zerbrochen sind. „Ich glaube, dass es mithilfe des Computers gelingen wird, die ganze akkadische Literatur in den kommenden 40, 50 Jahren zu rekonstruieren.“ Die digitalen Möglichkeiten sind für den Altorientalisten dabei nur Mittel zum Zweck: „Wir entwickeln den Algorithmus nicht, um etwas Abstraktes zu tun, sondern um konkrete Texte wiederherzustellen. Ohne die Klassiker zu kennen, kann man eine Zivilisation nicht verstehen.“ (Nicola Holzapfel)

Prof. Dr. Enrique Jiménez ist seit 2018 Professor in der Abteilung für Alte Geschichte an der LMU. Jiménez, Jahrgang 1985, studierte Klassische und Hebräische Philologie an der Complutense Universität in Madrid. Ein Studium der Assyriologie führte ihn unter anderem an die Yale University, USA, und die Universität Heidelberg. 2013 wurde Jiménez an der Complutense Universität mit einer Arbeit über „Das Bild der Winde in der babylonischen Literatur“ promoviert. Anschließend arbeitete er in Yale am Cuneiform Commentaries Project. 2017 kehrte er an die Complutense Universität zurück, ans Department für Hebräische und Aramäische Studien. Im Jahr 2017 wurde Enrique Jiménez mit dem Sofja Kovalevskaja-Preis ausgezeichnet.

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