News

Interview: „Dramatische Verbesserungen im Gesundheitsbereich“

02.11.2021

Weniger Ungleichheit, höhere Lebenserwartung: ein Interview über die Entwicklung der Lebenssituation in Deutschland seit 1990 und Unterschiede zwischen den USA und Europa.

Teilnehmende an einem Marathon vor dem Start

Der sozioökonomische Status entscheidet mit über die Gesundheit, aber auch das individuelle Verhalten spielt eine Rolle. | © IMAGO / WavebreakmediaMicro / Panthermedia

Professor Joachim Winter und Peter Redler vom Seminar für empirische Wirtschaftsforschung haben eine Studie zu den Unterschieden in Lebenserwartung und Einkommen in Ost- und Westdeutschland veröffentlicht. In einer weiteren Publikation haben sie die Situation in den USA und Europa verglichen.

Sie haben die Entwicklung von Lebenserwartung und Einkommen in Deutschland untersucht. Könnten Sie das Ergebnis kurz zusammenfassen?

Peter Redler: Wir haben die Landkreise Deutschlands nach dem verfügbaren Einkommen gerankt und untersucht, wie sehr es mit der Mortalität zusammenhängt. Unser Hauptergebnis ist, deutschlandweit: Die Mortalität ist höher in Regionen, in denen die Einkommen geringer sind. Wenn man aber den Zeitraum von 1990 bis 2015 betrachtet, ist diese regionale Ungleichverteilung über die Zeit kleiner geworden. Zwischen Ost- und Westdeutschland waren die Unterschiede in der Sterblichkeit zur Zeit der Wiedervereinigung noch relativ groß. Auch die sind jetzt geringer geworden.

Joachim Winter: Wir sehen, dass es in Deutschland im Gesundheitsbereich dramatische Verbesserungen gab, auch in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung und gerade hinsichtlich der Lebenserwartung. Man kann sich natürlich fragen, wo Defizite bestehen. Aber insgesamt ist das Gesundheitssystem in Deutschland wie in den meisten entwickelten Ländern sehr leistungsfähig. Das haben wir auch während der Pandemie gesehen.

Sie haben herausgefunden, dass der Zusammenhang zwischen ökonomischer Ungleichheit und Sterblichkeit schwächer geworden ist. Woran liegt das?

Joachim Winter: Da gibt es verschiedene Faktoren, die dafür ausschlaggebend sind. Die wichtigsten Gründe sind: Die medizinische Versorgung insgesamt hat sich verbessert, insbesondere in den weniger einkommensstarken Landkreisen. Das gilt auch für den Zugang aller Bevölkerungsgruppen zu medizinischer Versorgung.

Peter Redler: Wir haben auch das Gesundheitssystem im Osten vor der Wiedervereinigung untersucht. Bis zu den 1970ern war es relativ modern und mit dem im Westen vergleichbar. Danach ist es zunehmend veraltet und wurde nicht mehr stark genug finanziert. Nach der Wiedervereinigung gab es dann eine relativ rasche Angleichung an das westliche Gesundheitssystem.

Joachim Winter: Im Osten gab es viele Industrien, die wesentlich hinter denen im Westen zurückgeblieben sind, und das führte nach der Wiedervereinigung zu deren Abbau und zu Arbeitsplatzverlust. Aber im Öffentlichen Sektor hat man stark investiert. Dort kam es oft zu einem Aufholen des Ostens.

Entwicklungen in den USA und Europa im Vergleich

Sie zeigen in einem weiteren Paper unter anderem, dass die Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Europa sehr gut ist, auch verglichen mit den USA.

Peter Redler: Ja, vor allem die Säuglingssterblichkeitsrate, der Tod im ersten Lebensjahr, ist in den USA noch einmal etwas höher als in den vergleichbaren europäischen Ländern. Wenn man das erste Lebensjahr mit den folgenden Jahren bis zum 18. Geburtstag vergleicht, ist das erste Lebensjahr das riskanteste Jahr. Das hat dann rechnerisch auch einen Einfluss auf die gesamte durchschnittliche Lebenserwartung.

Joachim Winter: In Europa ist die Sterblichkeit in den ärmsten Landkreisen in den in dieser Studie untersuchten 28 Jahren noch einmal um ein Drittel zurückgegangen. Dies sind Entwicklungen, die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzten mit der Professionalisierung der Krankenhäuser und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit weiteren Revolutionen bei der Behandlung von Krankheiten und bei der medizinischen Versorgung allgemein. Diese Entwicklungen gehen immer noch weiter. Verbesserte Umweltbedingungen und eine verbreitet gesündere Lebensweise spielen auch eine Rolle.

Wie entwickelt sich die Lebenserwartung in den USA verglichen mit Deutschland?

Peter Redler: In den USA wurde schon vor Corona beobachtet, dass die Mortalitätsraten zum Teil wieder steigen für bestimmte Altersgruppen. Ein Hauptgrund dafür sind die sogenannten „Deaths of Despair“. Zu diesen kann man zum Beispiel auch die Opioidkrise zählen. Diesen Trend gab es in Europa nicht. Unsere Studie zeigt auch, dass die Ungleichheit zwischen den ärmsten fünf Prozent der Bevölkerung und den reichsten fünf Prozent größer ist in den USA. Die Sterberaten unterscheiden sich dort stärker nach sozioökonomischem Status. Aber auch dort geht die Ungleichheit über die Zeit zurück.

Joachim Winter: Der Abstand der Mortalität zwischen schwarzen und weißen Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten in den USA deutlich verringert. Es gibt aber immer noch Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, und Schwarze sterben im Mittel immer noch früher als Weiße. Tatsächlich ist in den letzten 30 Jahren die Verbesserung der Lebenserwartung tendenziell aber eher benachteiligten Gruppen zugutegekommen. Es könnte sein, dass diese Entwicklung irgendwann zum Erliegen kommt. Aber grundsätzlich ist es eine positive Nachricht, dass Lücken bei der Lebenserwartung geschlossen werden. Zuletzt wurde in der Diskussion über die Trends der Sterblichkeit in den USA allerdings auch betont, dass die Lebenserwartung bei den Weißen stagniert. Unser Ansatz war es, diese Entwicklungen mit denjenigen in Europa zu vergleichen. Unsere Studie zeigt nun, dass die Lebenserwartung in Europa im Gegensatz zu den USA zuletzt weiter gestiegen ist.

Langfristige Auswirkungen auf Gesundheit

Sie untersuchen an Ihrem Lehrstuhl nicht nur gesellschaftliche Ungleichheit und Lebenserwartung, sondern machen auch Studien zu individuellem Verhalten. Wo gibt es dabei Schnittmengen in Ihrer Forschung?

Joachim Winter: In meiner Forschung habe ich mich auch mit langfristigen Determinanten der Gesundheit beschäftigt. Dazu zählt man insbesondere Schocks, denen Kinder ausgesetzt sind, wenn sie noch relativ klein sind. Das können Gründe sein, die von außen kommen – speziell haben wir uns Hungerepisoden nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen, die natürlich negative langfristige Wirkungen hatten.

Aber auch Verhaltensweisen der Eltern haben langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder. Tendenziell ist es so, dass höhergebildete Menschen achtsamer sind, also mehr auf sich selbst, ihre eigene Gesundheit achten und natürlich auch auf die ihrer Kinder. Das löst langfristige Entwicklungen aus, die über die Zeit nicht leicht korrigierbar sind. Ökonomische Lebensbedingungen und Verhaltensweisen – das spielt alles rein in diesen Zusammenhang. Allgemein untersuchen wir den Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status auf der einen Seite und der Gesundheit auf der anderen.

In manchen Ländern, insbesondere den USA, ist der Zugang zum Gesundheitssystem zwischen verschiedenen sozioökonomischen Gruppen sehr ungleich. Das liegt insbesondere an der fehlenden Krankenversicherung der relativ einkommensschwachen Schichten – das wurde durch Obama Care und durch andere Reformen im amerikanischen Gesundheitssystem teilweise verbessert.

In Deutschland ist der Zugang zum Gesundheitssystem nicht so ein großes Problem. Durch unser Krankenversicherungssystem ist der Zugang, zumindest zur Grundversorgung, überall gewährleistet. In Deutschland ist der Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Hintergrund und Lebenserwartung weniger auf das Gesundheitssystem zurückzuführen als auf eine Kombination aus Verhaltensweisen, Umgebungsfaktoren und der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems.

Ihre Studien zeigen, dass der sozioökonomische Status über die Gesundheit mitentscheidet. Im Gesundheitssystem wird aber zunehmend gesundes individuelles Verhalten belohnt, zum Beispiel durch Bonuspunkte von Krankenversicherungen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Joachim Winter: Grundsätzlich können Anreize sinnvoll sein, wenn man Menschen zu gesundheitsförderlichem Verhalten motivieren möchte. Das wird aber nicht alle Probleme lösen. Man sieht in einigen Studien, die aber nicht wir selbst angefertigt haben, dass diejenigen, die auf solche Anreize reagieren, jene sind, die ohnehin schon vergleichsweise günstiges gesundheitsbezogenes Verhalten zeigen. Und diejenigen, die man schwer erreichen kann – aus welchen Gründen auch immer –, sind auch durch Anreize schwer zu motivieren.

Es gibt auch eine Diskussion darüber, ob und wie Versicherungsunternehmen solche Anreize auch zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen können. Das ist daher in Deutschland ein stark regulierter Bereich.

Peter Redler: Dazu haben wir uns in den Studien angesehen, welche sozioökonomischen Gruppen in den letzten 15 Jahren noch dazugewonnen haben bei der Lebenserwartung: Das sind tatsächlich eher die Kreise mit den höheren Einkommen. Die Verbesserung, die wir vorher für alle Regionen festgestellt haben, sehen wir in jüngerer Zeit eher für die sozioökonomisch stärkeren Kreise. Somit besteht in den einkommensschwächeren Kreisen sicherlich noch ein Potenzial für eine weiter steigende Lebenserwartung.

Porträt von Peter Redler, Wissenschaftler am Seminar für Empirische Wirtschaftsforschung der LMU

„In den einkommensschwächeren Kreisen besteht sicherlich noch ein Potenzial für eine weiter steigende Lebenserwartung“, sagt Peter Redler vom Seminar für Empirische Wirtschaftsforschung. | © privat

Sie haben für Deutschland Daten von 1990 bis 2015 ausgewertet. Lassen sich Aussagen über die Entwicklung seither treffen?

Peter Redler: 2015 steht bei uns für den gewichteten Durchschnitt von 2014 bis 2016, also drei Jahre zusammengefasst. Darüber hinaus können wir keine Aussagen treffen, auch nicht zu der Pandemie.

Joachim Winter: Die Daten sind auf Kreisebene immer erst mit einer gewissen Verzögerung für die Forschung verfügbar. Wir sehen aber in Deutschland, dass die landesweite Lebenserwartung seit 2015 weiter gestiegen ist, während sie 2020 im Zuge der Covid-19-Pandemie vermutlich leicht gesunken ist. Diese Entwicklung ist nicht vergleichbar mit der dramatischen Abschwächung des langfristig positiven Trends der Lebenserwartung in den USA. Eine Opioid-Krise gibt es in Deutschland beispielsweise nicht.

Peter Redler: Man muss aber auch sagen, dass der Fortschritt langsamer geworden ist. Die Sterberaten sinken langsamer. Das ist ein Trend, den man auch in Ländern mit sehr hoher Lebenserwartung wie Japan und den nordeuropäischen Ländern sieht. In Regionen, in denen die Lebenserwartung sich am besten entwickelt hat, geht tendenziell der Fortschritt langsam zurück, sodass Regionen, die aufholen, ihnen langfristig näher kommen.

Joachim Winter: Es wird interessant sein, wie sich die Sterblichkeit weiterentwickelt. In den nächsten zehn Jahren werden diejenigen, die sterben, zu großen Teilen erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sein. Die sehr schwierigen Lebensbedingungen während und kurz nach dem Krieg sind bald nicht mehr relevant. Derartige Entwicklungen tragen dazu bei, dass die Sterblichkeit unter den Ältesten weiter sinkt. Hinzu kommt eine weitere Verbesserung der medizinischen Versorgung. Mögliche Durchbrüche zum Beispiel bei der Krebstherapie hätten natürlich großen Einfluss auf Sterblichkeit und Lebenserwartung.

Forschen zu der Frage, wie Ungleichheiten miteinander zusammenhängen

Porträt von Prof. Dr. Joachim Winter

Wünscht sich einen besseren Zugang zu Daten für die Forschung: Prof. Joachim Winter. | © privat

Wie werden Sie das Thema weiter untersuchen?

Joachim Winter: Wir wollen die Frage nach den kausalen Ursachen der Mortalitätsungleichheit weiterverfolgen. Zum Beispiel wollen wir noch genauer anschauen, ob die bis in 1990er-Jahre deutlich erhöhte Sterblichkeit in Ostdeutschland mit der Umweltverschmutzung dort zu tun hat. Das ist eine naheliegende Hypothese. Dazu braucht man aber detaillierte räumliche Daten zur Luftverschmutzung in der DDR bis zur Wiedervereinigung.

Ein größeres Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Frage, wie Ungleichheiten miteinander zusammenhängen. In den hier besprochenen beiden Studien haben wir Ungleichheiten des Einkommens und der Sterblichkeit untersucht. Aber es gibt noch andere Dimensionen der Ungleichheit, insbesondere hinsichtlich der Bildung, die ja sowohl das Einkommen als auch gesundheitsbezogene Verhaltensweisen beeinflusst. Man kann sich ein Dreieck vorstellen aus Bildung, Einkommen und Gesundheitszustand.

Es ist wichtig, die kausalen Beziehungen zwischen diesen drei verschiedenen Dimensionen der Ungleichheit zu verstehen. Dafür wäre in Deutschland eine Verbesserung der Verknüpfbarkeit von Daten aus verschiedenen Quellen sehr wichtig. Viele der derzeit vorliegenden Erkenntnisse stammen aus skandinavischen oder amerikanischen Daten. Wir hoffen, dass es auch in Deutschland zu einer Verbesserung des Zugangs zu amtlichen Registerdaten und deren Verknüpfbarkeit mit Daten aus weiteren Quellen, wie zum Beispiel Befragungsstudien, kommt.

Studie in „Fiscal Studies": Redler P., Wuppermann A., Winter J., Schwandt H., Currie J.: Geographic Inequality in Income and Mortality in Germany. Fiscal Studies (2021). Doi: 10.1111/1475-5890.12259

Studie in „PNAS": Schwandt H. et al.: Inequality in mortality between Black and White Americans by age, place, and cause and in comparison to Europe, 1990 to 2018. PNAS (2021). doi: 10.1073/pnas.2104684118

Wonach suchen Sie?