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Interview zur Ukraine-Krise: Gefährliches Geschichtsbild

16.02.2022

Historiker und Osteuropa-Experte Martin Schulze Wessel erläutert, was die Ukraine-Krise derzeit so brisant macht.

Kreml, Moskau

Blick auf den Kreml, Moskau | © IMAGO / Russian Look / Konstantin Kokoshkin

Mit Spannung und Sorge blickt die Welt auf die Ukraine und den dortigen russischen Truppenaufzug. Der Historiker Professor Martin Schulze Wessel, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU und derzeit Fellow am St Antony’s College in Oxford, spricht im Interview über geschichtliche Zusammenhänge der aktuellen Krise, über mögliche Ziele Putins und historische Analogien zu Nord Stream 2.

Herr Professor Schulze Wessel, was muss man über die deutsch-russische Geschichte wissen, um die Rolle der Bundesrepublik in der Ukraine-Krise zu verstehen?

Martin Schulze Wessel: Tatsächlich gibt es eine historisch vielschichtige, besondere Beziehung zwischen Deutschland und Russland. Politisch bestand ab dem 18. Jahrhundert eine enge Allianz, die auf die Kontrolle der Länder, die zwischen Preußen und Russland lagen, insbesondere Polens, zielte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde mit dem Rapallo-Vertrag daran angeknüpft – was 1939 zur wiederholten Teilung Polens führte.

Doch die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind nicht nur auf diesen politischen Aspekt zu reduzieren. So vertiefte im 19. Jahrhundert ein intensiver Kulturaustausch das Verhältnis, mit einer exzeptionellen Rezeption deutscher Philosophie in Russland, speziell des Idealismus, und einer intensiven Rezeption russischer Literatur in Deutschland.

Verbindet die beiden Länder auch energiepolitisch eine lange Geschichte?

Russland war immer eine Rohstoff-Exportmacht, was sich im 18. Jahrhundert mit dem machtpolitischen Aufstieg des Zarenreichs verknüpfte. Peter der Große war daran interessiert, Holz und andere Rohstoffe nicht nur zu verkaufen, sondern auch die Lieferwege zu beherrschen, den fiskalischen Gewinn für die Staatskasse zu erhöhen und damit die Macht des Imperiums zu steigern. Damit ging das Interesse Russlands einher, die Ostsee handelspolitisch zu beherrschen, weshalb es schon im frühen 18. Jahrhundert Kontakt etwa nach Schwerin gab, um sich durch Bündnisse mit deutschen Territorialstaaten Handelswege zu sichern. Ziel war der Aufbau eines russischen Außenhandels, der auch durch neue Kanalverbindungen ohne Zollunterbrechung bis in die Nordsee führte.

Die Kanäle, die in dieser Zeit geplant wurden, waren Infrastrukturprojekte mit erheblichen Implikationen für die internationale Politik. Insofern kann man in ihnen eine Analogie zur heutigen Nord-Stream-2-Pipeline sehen.

Vor dem Hintergrund der Geschichte – wo sehen Sie die Interessen Russlands in der Ukraine-Krise?

In Putins jüngeren Verlautbarungen sieht man eine Tendenz, sein politisches Handeln in historische Zusammenhänge zu setzen. Dabei spielt das russische Zarenreich eine weit größere Rolle als die ehemalige Sowjetunion. Zudem formuliert Putin sogenannte „heilige” Ziele, in deren Rahmen er auch die Eroberung der Krim 2014 sakralisierte.

Eine Befürchtung westlicher Beobachter ist, dass der Konflikt möglicherweise nicht nur politischem Kalkül folgt – was schlimm genug ist –, sondern auch an eine historische Mission anknüpft. In einem Geschichtsessay, den Putin im vergangenen Jahr veröffentlichte, zog er etwa das Fazit, dass die Russen und Ukrainer eine gemeinsame Nation bilden. Damit zog er die Nationalstaatlichkeit der Ukraine in Zweifel. Auf Basis dieser – nicht akzeptablen und falschen – Interpretation der Geschichte könnte er versuchen, Annexionen zu legitimieren. Putin könnte dabei in einem Geschichtsverständnis gefangen sein, in dem er einen möglichen Krieg gegen die Ukraine als interne Angelegenheit betrachtet. Geschichte könnte ihm zur Legitimation von Kriegsführung dienen – und den Verlauf des Konflikts sehr schwer kalkulierbar machen.

Ursula von der Leyen sprach im Handelsblatt von einem „Aufmarsch russischer Truppen rund um die Ukraine, wie es ihn seit 70 Jahren nicht gegeben hat“. Inwieweit kann man das derzeitige Gebaren Russlands mit historischen Ereignissen vergleichen?

Dass die Präsidentin der Europäischen Kommission den Bogen zum Zweiten Weltkrieg schlägt, ist sachlich zwar richtig – im Kalten Krieg gab es eine derartige Truppenmassierung in Europa allenfalls bei der Invasion in die Tschechoslowakei beim Prager Frühling 1968. Der Brückenschlag ist aber auch insofern nicht erhellend, als der Zweite Weltkrieg ein völlig anderes Ereignis darstellt als die Entwicklung jetzt.

Deutschland wurde in seiner Haltung in der Ukrainekrise Zögerlichkeit vorgeworfen. Zurecht?

Ich denke im Gegenteil, dass Deutschland insbesondere durch die Sanktionen nach 2014, die Putin sicherlich nicht erwartet hatte, Erhebliches zur Eindämmung Russlands geleistet hat. Putin hat sein Ziel verfehlt, die Europäer zu spalten. Es besteht kein Zweifel, dass Deutschland, wenn es tatsächlich zu einer Invasion kommen sollte, die Sanktionen viel größeren Ausmaßes als nach 2014 mittragen wird; auf Deutschland wird dabei wegen der wirtschaftlichen Verflechtung mit Russland eine erhebliche Last entfallen, Nord Stream 2 wäre dabei nur ein Faktor.

Kann die deutsche Russlandpolitik heute an die Entspannungspolitik von Willy Brandt anknüpfen?

Die Entspannungspolitik unter Willy Brandt war sehr erfolgreich, aber sie stellt kein Rezept für die Gegenwart dar. Denn die Verhältnisse haben sich grundlegend gewandelt: Statt mit einer Status-quo-Macht wie der Sowjetunion, die die territorialen Verhältnisse in der Zeit nach Stalin in Europa nicht mehr ändern wollte, haben wir es jetzt mit einer Macht zu tun, die an einem Status quo ante wie vor der NATO-Osterweiterung interessiert zu sein scheint.

Putins Russland ist eine revisionistische Macht, der man nicht mit Entspannung, sondern nur mit einer Mischung von Containment und Kooperation in internationalen Formaten begegnen kann. Und das macht die Situation heute so unterschiedlich von den Siebzigerjahren – und so gefährlich.

Prof. Martin Schulze Wessel | © Historisches Kolleg/Stefan Obermeier,Muenchen

Sie selbst haben in Moskau studiert und später die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission gegründet. Wie ist die Sicht der Kolleginnen und Kollegen in Osteuropa auf die Situation?

Am Anfang der Woche habe ich mit meinem ukrainischen Co-Vorsitzenden der Historikerkommission gesprochen – die übrigens nach der russischen Annexion der Krim 2014 auch mit dem Impuls gegründet worden war, die Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine in dieser Situation nicht alleine zu lassen, sondern institutionelle und persönlich-kollegiale Verbindungen zwischen Deutschland und der Ukraine aufzubauen.

Mein Kollege sagte, dass seine Landsleute den jetzigen Konflikt gelassener wahrnehmen, als man es sich im Ausland vielleicht vorstellt. Denn der Kriegszustand mit Russland gehört dort – leider – seit Jahren zum Alltag, mit inzwischen rund 14.000 Todesopfern. Es gibt fast so etwas wie eine Gewöhnung daran. Aber natürlich könnte sich dieser Krieg enorm ausweiten, wenn die Situation jetzt eskaliert.

Interview: Anja Burkel


Prof. Martin Schulze Wessel hat seit 2003 den Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Imperien in Osteuropa, russische Historiographie und Geschichtsdenken, transnationale Beziehungen zwischen Ost-, Mittel- und Westeuropa, aber auch die Religionsgeschichte Ostmittel- und Osteuropas. Bis Sommer 2022 forscht Schulze Wessel mit einem Richard von Weizsäcker Fellowship am St Antony's College, Oxford.

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