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„Jede Lücke sinnvoll füllen”

22.11.2023

Die armenische DaF-Studentin Ani Nersesyan hat für ihr Engagement einen DAAD-Preis erhalten.

Neben ihrem Studium engagiert sich die LMU-Studentin Ani Nersesyan als Wohnheimsprecherin und in der DaF-Fachschaft. | © Nela Dorner

Manchmal muss Ani Nersesyan ihr „ganzes Leben kurz beiseiteschieben“, um sich um einen kaputten Kühlschrank zu kümmern. „Wenn Bewohner eine E-Mail an den Hausmeister nicht gut auf Deutsch formulieren können, heißt es einspringen und helfen.“ Denn als Sprecherin eines Studierendenwohnheims unterstützt Nersesyan ausländische Kommilitonen bei der Kommunikation mit Behörden, dem Studierendenwerk oder eben dem Hausmeister.

Für ihre Ehrenämter, von denen jenes als Wohnheimsprecherin nur eines ist, wird die 22-Jährige nun mit dem „DAAD-Preis für ausländische Studierende mit hervorragenden Studienleistungen und sozialem Engagement“ ausgezeichnet. Den mit 1.000 Euro dotierten Preis erhält sie am 23. November im International Office der LMU auch im Hinblick auf die Tatsache, dass sie nach nur drei Jahren in der Bundesrepublik schon geschliffen gut Deutsch spricht – und andere beim Erlernen der Sprache unterstützt.

Dass die gebürtige Armenierin nach dem Abitur in der Hauptstadt Eriwan zum Studieren nach Deutschland wollte, lag auch an ihrer älteren Schwester. Diese belegte damals bereits den Masterstudiengang Betriebswirtschaftslehre an der LMU. „Aber zwischen Abiturprüfungen in Armenien und dem Semesterbeginn in Deutschland blieb mir nur ein Jahr, in dem ich zudem an einer russisch-armenischen Universität Journalismus studierte“, erinnert sich Ani Nersesyan. „Und ich konnte kein Wort Deutsch. Das war schon sportlich.“ Wann immer möglich, lernte sie deshalb die Sprache, belegte Kurse am Goethe-Institut in Eriwan – und durchlebte zugleich die schlimmste Zeit ihres Lebens.

Kommilitonen im Krieg

Denn in ihrem zweiten Semester hatte der Krieg mit dem Nachbarland Aserbaidschan begonnen. „Viele armenische Soldaten waren Freunde, studierten mit uns oder hatten mit uns die Schule besucht.“ Als Fachschaftsmitglied sammelte Nersesyan Hilfsmittel für die Soldaten, packte Lebensmittel, Kleider und Hygieneprodukte und schickte sie an die Grenze. „Leider sind in diesem Krieg sechs meiner Freunde als Soldaten ums Leben gekommen“, sagt Nersesyan. „Das war für mich eine sehr, sehr, sehr schwere Zeit.“

Zu dem Trauma kam die COVID-Pandemie, wegen der sich auch der geplante Umzug nach Deutschland verzögerte. Mit vier Wochen Verspätung kam Nersesyan im November 2020, zwischen zwei Lockdowns, endlich in München an. Unterstützt von ihrer Schwester fasste sie langsam Fuß, begann ein Bachelorstudium in Deutsch als Fremdsprache (DaF) an der LMU, lebte sich in ihrem Studierendenwohnheim ein und organisierte schon bald Deutschkurse für geflüchtete Studierende am DaF-Institut.

Dazu wurde sie in ihrem Wohnheim – einer Einrichtung des Studierendenwerks – zu einer von drei Wohnheimsprecherinnen gewählt. Das insgesamt 20-köpfige Team bildet eine Brücke zwischen Studierendenwerk und Bewohnern. „Sehr viele davon sind aus dem Ausland, etwa China, Indien, Pakistan, und haben – wenn die Ansprechpartner nicht fit im Englischen sind – oft Probleme mit der Verständigung“, so Nersesyan. „Wir helfen deshalb bei der Bürokratie, übersetzen Anfragen, schreiben E-Mails, wir dolmetschen oder geben Beschwerden weiter, wenn das Internet oder eben der Kühlschrank nicht funktionieren.“

Brücke zu den Dozierenden

Eine andere wichtige Aufgabe ist das Organisieren von Neueinzügler-Führungen, Versammlungen oder „Barbecue-Events“. Auf einem solchen Grillabend erzählten ausländische Studierende, dass es ihnen gerade an Alltagsdeutsch mangle. Also initiierte Nersesyan einen zwanglosen Deutsch-Konversationskurs in einem Gemeinschaftsraum des Wohnheims. „Dort tauschen wir uns zu bestimmten Themen aus, die ich setze: Oktoberfest, Barbie versus Oppenheimer, internationale Kochrezepte, Weihnachtstraditionen in verschiedenen Kulturen …“ Die einzige Regel ist, Deutsch zu sprechen. „Englisch wird nicht akzeptiert.“

Seit dem dritten Semester ist Ani Nersesyan zudem Sprecherin der DaF-Fachschaft. „Da wir mit rund 60 Studierenden nur ein sehr kleiner Bereich sind und ein sehr gutes kleines Team von sechs Leuten haben, ist die Verantwortung nicht allzu groß“, findet Nersesyan. Zu Semesterbeginn und -ende allerdings gilt es, „kleine Events für die Erstis“ zu organisieren, eine Tour durch die Fachbibliothek Philologicum etwa oder Stände, um für die Fachschaft zu werben. Unterm Semester vermittelt Nersesyan zwischen Dozierenden und Studierenden – etwa, wenn Letztere den Eindruck haben, dass Noten nicht fair vergeben werden, der Workload zu hoch ist oder virtuelles Lernmaterial nicht freigeschaltet wurde. „Wir sind die Brücke zwischen Studierenden und Dozierenden“, so Nersesyan. „Das ist am Ende, wenn wir eine Lösung gefunden haben, ein sehr gutes Gefühl.“

Um sich neben ihren Ehrenämtern selbst zu finanzieren – und obendrein ihre Mutter in Armenien zu unterstützen –, arbeitet die 22-Jährige bei einer Personaldienstleistungsfirma. „Ich rekrutiere Personal für IT-Jobs“, erzählt Nersesyan. „und telefoniere am Tag mit 60 verschiedenen Leuten, die Fragen zu Stellenbeschreibungen haben. Ich bin immer am Sprechen!“ Das sei zwar anstrengend. „Aber ich habe auch gern mit Menschen zu tun und gebe ihnen Informationen weiter. Das finde ich interessant – und auch irgendwie cool.“ In der Zukunft kann Nersesyan sich – neben Journalismus und DaF – auch eine Laufbahn im Personalwesen vorstellen.

Kurzgeschichte über den Krieg

In ihrer Freizeit schreibt und malt die Armenierin gerne – auf Etsy konnte sie bereits drei ihrer abstrakten Acryl- und Ölgemälde verkaufen. Mit ihrer Kurzgeschichte „Die vielstimmige Stille Armeniens“ belegte sie jüngst den ersten Platz unter den Bewerbern aus Deutschland des in Italien vergebenen Literaturpreises Energheia, der unter der Schirmherrschaft der deutschen Botschaft in Rom steht. In der halb fiktiven, halb wahren Geschichte erzählt sie von Schönheit, Geschichte und Kultur ihres Heimatlandes, aber auch von den Auswirkungen des Militärkonflikts mit Aserbaidschan. „In der Erzählung geht es um ein Mädchen und einen Soldaten, der im Krieg stirbt“, so die Studentin. „Damit habe ich ein wenig mein Trauma verarbeitet.“ Sie sei sehr stolz, dass gerade diese Geschichte prämiert wurde – weil sie Menschen in Deutschland und Italien so auf die Situation in Armenien aufmerksam machen konnte. „Viele wissen gar nichts von diesem Krieg“, so Nersesyan.

Ihre Münchner Freunde fragten immer: Wie schaffst du es, so viel hinzukriegen? „Aber meine Motivation ist wohl, dass ich den Unterschied zwischen meinen Möglichkeiten hier und in Armenien immer vor Augen habe.“ Die Chance, etwas zu erreichen, etwas Vernünftiges zu tun mit ihrer Zeit, will sie nicht vertun. „Jede Lücke, die ich sinnvoll füllen kann, will ich auch schließen.“

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