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Jederzeit auf neue Krankheiten vorbereitet

12.11.2021

Camilla Rothe belegte als eine der Ersten eine asymptomatische COVID-19-Übertragung. Der Umgang mit unbekannten und neuen Infektionskrankheiten ist Teil der Arbeit der Tropenmedizinerin.

Porträtaufnahme von Dr. Camilla Rothe im Labor

Dr. Camilla Rothe erforscht Fälle aus ihrem Arbeitsalltag als Ärztin in der Tropenmedizin. | © LMU

„Wir müssen ständig wachsam sein”, sagt Dr. Camilla Rothe. Die Leiterin der Ambulanz für Tropen- und Reisemedizin am Klinikum der LMU hat vor 20 Monaten zu Corona eine Entdeckung gemacht, die – und das ist in diesem Fall nicht übertrieben zu sagen – die Welt bewegte. Aber zu den importierten Infektionskrankheiten, die der 46-Jährigen begegnen, zählt bei Weitem nicht nur COVID-19. „Vor ein paar Jahren hatte die durch Mücken übertragene Zika-Infektion die Welt erschreckt. Diese geht nicht nur mit Fieber und Gliederschmerzen einher, wie das Dengue-Fieber, sondern kann auch zu schweren embryonalen Fehlbildungen führen.” Neben dem Auftreten immer neuer Krankheiten beobachten Rothe und ihre Kollegen, dass bereits bekannte Leiden infolge von Migration an neuen Orten auftauchen. Rothe plädiert daher dafür, tropenmedizinisches Wissen auch Allgemeinärzten zugänglich zu machen.

Sich selbst sieht Camilla Rothe „primär als Klinikerin und Hochschullehrerin” – als Forscherin dagegen nur am Rande. Dennoch reichen ihre wissenschaftlichen Themen von der Behandlung einer besonderen Form der Meningitis in Malawi über die im Gesundheitswesen übertragenen Infektionen in der Subsahara bis hin zu tropischen Wurmerkrankungen wie der Lymphatischen Filariose. „Meine Publikationsliste ist so breit, weil ich konkret die Fälle erforscht habe, die in meinem Alltag als Ärztin meines Weges kamen.”

Am 27. Januar 2020 war das ein ganz spezieller Fall. Ein 33-jähriger Mann, der am Wochenende eine leichte Erkältung verspürt hatte, stellte sich an diesem Tag bei der Ambulanz für Tropen- und Reisemedizin vor. Eigentlich schon genesen, wollte der Mitarbeiter eines Automobilzulieferers nur ausschließen, nicht doch diese neuartige Lungenkrankheit aus dem fernen Wuhan zu haben – schließlich war eine chinesische Kollegin gerade positiv darauf getestet worden.

„Jederzeit auf neue Krankheiten vorbereitet zu sein, ist hier im Tropeninstitut eigentlich unser täglich Brot”, erklärt Camilla Rothe. „Wir studieren globale Outbreak-Berichte, überlegen, was Verbreitungspotenzial hat und wie wir die Bevölkerung schützen könnten.” Im Tropeninstitut München war man bereits auf COVID-19-Fälle auch in Deutschland eingestellt: An den Kliniktüren hingen mehrsprachige Zettel mit der Falldefinition – zusammen mit der heute so häufig zu lesenden Bitte, mit diesen Symptomen das Wartezimmer zu meiden. Als Camilla Rothe in einem abgeschirmten Klinik-Bereich einen Abstrich bei dem Patienten nahm, war sie „in voller Schutzmontur: mit FFP2-Maske, Schutzbrille, Kittel und Handschuhen”. Die Probe musste zur Prüfung auf SARS-CoV-2 in die Mikrobiologie der Bundeswehr geschickt werden. „Denn damals gab es COVID-Tests ja noch nicht an jeder Ecke.”

Schlussfolgerung mit Sprengkraft

Als abends das positive Ergebnis eintraf, war Camilla Rothe trotz aller Vorbereitung überrascht – und befragte den Patienten noch einmal eingehend. Dabei wurde klar, dass die Kollegin aus Shanghai während der mehrstündigen Zusammenarbeit noch keinerlei Symptome gezeigt hatte. Staatliche Behörden, die telefonisch zudem persönlichen Kontakt zu der Kollegin aus China gehabt hatten, bestätigten dies – und Rothe schloss daraus, dass die neue Krankheit auch symptomfrei übertragen werden kann.

In den Tagen danach standen die Instituts-Telefone nicht still. Schließlich hatte die Medizinerin damit nicht nur den ersten COVID-19-Fall in Deutschland diagnostiziert, sondern auch als erste westliche Medizinerin einen von asymptomatischen Patienten übertragenen COVID-19-Fall klar belegt. In der Leitung waren vor allem Medienvertreter. „Dabei hatten wir zusätzlich zum Klinikalltag viel zu tun. Wir gingen zum Beispiel mit Studierenden in zwei Altenheime, screenten das Personal mit Abstrichen und schulten es in der Infektionsnavigation.”

Während Familie und Kollegen positiv auf Rothes Erkenntnisse über die asymptomatische COVID-19-Übertragung reagierten, wurden sie von anderen Seiten stark angezweifelt. „In den Medien kam es zu diversen Schmähungen.” Sogar Regierungsstellen Großbritanniens und Schwedens hielten Rothes Beobachtungen damals für falsch. „Das war schon extrem. Viele wollten einfach nicht hören oder glauben, dass Patienten ohne Symptome dieses Virus übertragen können.”

Ein halbes Jahr später dann, als sich Camilla Rothes Erkenntnisse weltweit bestätigten, „schwang das Pendel in die andere Richtung“: In der New York Times (NYT) fanden sie in dem Artikel „How the World Missed COVID-19's Silent Spread” auf der Titelseite Beachtung. Der Artikel wurde später zusammen mit anderen NYT-Texten zur Pandemie mit dem „Pulitzer Prize for Public Service” ausgezeichnet. Das TIME Magazine wählte Rothe ob ihrer Entdeckung gar zu einer der 100 einflussreichsten Personen des Jahres 2020. Und nicht zuletzt erhielt sie die „Pro meritis scientiae et litterarum”-Auszeichnung des Freistaats Bayern. Camilla Rothe selbst war dieser Rummel „immer ein bisschen fremd”: „Ich habe kein Gen entschlüsselt, keine Maus kloniert, nur ein bisschen genauer hingeschaut und dann eins und eins zusammengezählt. Für mich und meine tägliche Arbeit eigentlich gar nichts Besonderes.”

Im Änderungsmodus

Für ihren Werdegang gaben ihre Erlebnisse in einem Krankenhaus in Kenia einst die Initialzündung. Schon als Jugendliche hatte Camilla Rothe sich für fremde Kulturen interessiert, für soziale Probleme wie die Armut auf der Welt. Nun, als Medizinstudentin, hospitierte sie in Nairobi. „Es war Ende der Neunzigerjahre”, erinnert sie sich. „Und die Menschen starben in großen Zahlen an HIV.” Das staatliche Krankenhaus, in dem sie zweieinhalb Monate lang lernte, kam ihr vor „wie ein riesiges Hospiz: In jedem Bett lagen gleich mehrere Patienten, die Ärzte konnten ihnen wenig anbieten. Das war fast apokalyptisch, aber auch extrem eindrucksvoll.”

Über das Thema HIV, das ihr in Kenia so drastisch begegnet war, promovierte die gebürtige Heidelbergerin später an der Freien Universität Berlin. Am Tropeninstitut der Charité machte sie derweil ihren Facharzt als Internistin mit infektiologischem Schwerpunkt und wirkte vier Jahre lang am Queen Elizabeth Central Hospital in Malawi – formell nötig gewesen wäre für die Facharztausbildung zur Tropenmedizinerin nur eines. Zurück in Deutschland arbeitete Dr. Rothe zunächst in der Bernhard-Nocht-Ambulanz für Tropenmedizin des Uniklinikums Hamburg, bevor sie 2017 als Oberärztin an das LMU Klinikum kam.

Seit der erste COVID-19-Patient Anfang 2020 bei ihr war, hat sich vieles in der Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin geändert. „Normalerweise sind wir eine der größten tropen- und reisemedizinischen Ambulanzen Deutschlands”, erklärt Camilla Rothe. Doch während die Zahl der Reiserückkehrer stark zurückgegangen ist, wurde ein neuer Bereich für die Erforschung von Impfstoffen geschaffen. „In Zukunft sollen hier auch tropenmedizinische Impfpräparate erforscht werden – das Ganze hatte für uns also auch einen positiven Effekt.”

„Sehr dankbar” ist Camilla Rothe dafür, dass weder ihre Familie noch die Kollegen, „meine Zweitfamilie”, gesundheitlich von COVID-19 betroffen waren. „Besonders hier in der Ambulanz für Tropen- und Reisemedizin ist das erstaunlich, weil wir ja vom ersten Tag an vorderster Front mit dem Virus beschäftigt waren.“ Camilla Rothe weiß, dass das jederzeit wieder geschehen kann, sobald sich eine neue Infektionskrankheit auf der Welt ausbreitet.

Anja Burkel

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