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„Kaum vorstellbar, was der Welt verlorenginge, wenn diesem Buch etwas zustieße“

11.04.2023

In der Münchner Universitätsbibliothek lagern bedeutende Werke aus vielen Jahrhunderten – manche sind so wertvoll, dass sie im Tresor aufbewahrt werden. Ein Blick auf sechs ausgewählte Bücher aus der Schatzkammer der UB.

Dr. Sven Kuttner in der Hocke vor Bücherregal

Dr. Sven Kuttner im ehemaligen Luftschutzbunker unter der UB vor dem Standort der Nürnberger Koberger-Bibel von 1480 | © LMU

Die Münchner UB gehört zu den größten Universitätsbibliotheken in Deutschland: Ab dem Jahr 1473 begann man – damals noch in Ingolstadt – mit dem Aufbau einer Bibliothek und dem Anlegen von Katalogen. Heute gehören rund fünfeinhalb Millionen Bücher und Medien zum Bestand. 167 dieser Bücher, die sogenannten Zimelien, sind so wertvoll, dass sie in einem Tresor gelagert werden.

Doch nicht nur dort verbergen sich Schätze: In dem ehemaligen Luftschutzbunker unter der UB stehen viele besondere Bände. Er wird deswegen mit einer besonderen Zusammensetzung aus Helium und Sauerstoff versorgt. Die Temperatur muss dort stets zwischen 17 und 18 Grad liegen, um das wertvolle Pergament und Papier zu schützen.

Der Bestand reicht von Handschriften – manche davon mehr als tausend Jahre alt und mit Blattgold verziert, andere für den häufigen Gebrauch bestimmt wie zum Beispiel das erste deutsche Kochbuch oder frühe Gesetzestexte – über Inkunabeln, also Druckerzeugnisse aus der Frühzeit des Buchdrucks, Blockbücher, alte Drucke und Autographen bis hin zu Erstausgaben von Lion Feuchtwanger oder Oskar Maria Graf.

Dr. Sven Kuttner, Leiter der historischen Sammlung und stellvertretender Direktor der UB, stellt einige besondere Werke vor, die auf der Welt einzigartig sind – in einem chronologischen Querschnitt der Zeit, der auch die Geschichte der LMU widerspiegelt:

Das Evangeliar Karls des Großen

Geöffnetes Buch

Geöffnetes Evangeliar Karls des Großen. | © LMU

Das Evangeliar Karls des Großen ist das älteste Buch in den Beständen der UB. Es entstand wohl Ende des 9. Jahrhunderts im Umkreis der Hofschule des einstigen Kaisers in Aachen und gehört zu den karolingischen Prachthandschriften.

Wie das Buch in die Bestände der UB gelangt ist, das sei ein großes Rätsel, sagt Sven Kuttner. „Niemand weiß, wie das Evangeliar an die LMU gekommen ist. Es ist erstmals Ende des 16. Jahrhunderts in einem der Kataloge der UB Ingolstadt nachweisbar.“

Das Evangeliar ist nicht vollständig, mehrere Doppelseiten fehlen. Auf den erhaltenen 137 Pergamentblättern ist unter anderem der Beginn des Markus-Evangeliums zu lesen.

In seiner Qualität ist das mehr als 1200 Jahre alte Buch hervorragend erhalten. „Der Einband wurde wohl Ende des 16. Jahrhunderts erneuert“, sagt Kuttner. „Er wurde angefertigt vom sogenannten Ingolstädter Perlschnurmeister, einem Buchbinder, der diesen typischen Einband gemacht hat. Dabei hat man sich allerdings für die Ingolstädter Sparversion entschieden“, erzählt Kuttner schmunzelnd: Nur der Buchrücken und ein Teil des Einbands wurden bezogen. Die Buchdeckel hingegen sind eher schlicht gehalten. Man achtete also vor allem darauf, dass das Werk repräsentativ im Regal stand.

„Kaum vorstellbar, was der Welt verloren ginge, wenn diesem Buch etwas zustieße“, sagt Sven Kuttner, klappt das Evangeliar behutsam zu und schließt es wieder im Tresor ein. Dort lagert es geschützt und unter idealen Bedingungen – und wird nur selten hervorgeholt, etwa wenn die UB das Buch an ein Museum verleiht.

Lex Baiuvariorum

Person mit geöffnetem Buch in der Hand

Geöffnete Lex Baiuvariorum | © LMU

Etwa um dieselbe Zeit wie das Evangeliar Karls des Großen, um 800, entstand die älteste erhaltene Handschrift des bayerischen Volksrechts. Sven Kuttner nimmt ein stattliches Buch in die Hand, doch wie sich herausstellt, ist es lediglich eine Buchkassette, in der sich dann der eigentliche Schatz verbirgt – ein überraschend kleines, schmales Bändchen. „Wenn ich sage, ich hole die Lex Baiuvariorum, dann erwarten die Leute oft, dass ich ein riesiges Werk anschleppe“, sagt Kuttner. „Aber mit Pergament war man natürlich sparsam damals.“

Das Buch gelangte im 17. Jahrhundert in den Bestand der UB und stammt aus dem Besitz des Juristen, herzoglichen Sekretärs und Archivars Christoph Gewold (1556-1621), dessen Bibliothek die Universitätsbibliothek Ingolstadt 1621 erhielt. „Wo Gewold selbst das Buch herhatte, weiß niemand“, sagt Kuttner. Das Buch gehört zu den wichtigsten erhaltenen Schriftstücken der Bajuwaren; die in der „Lex Baiuvariorum“ niedergelegten Gesetzestexte galten bis ins 12. Jahrhundert hinein.

Der Würzburg-Ebracher Psalter, 1230

Person mit aufgeschlagenem Buch in der Hand

Strahlende Farben wie vor 1000 Jahren: der Würzburg-Ebracher Psalter | © LMU

Zu den beeindruckendsten Büchern im Tresor der UB gehört der Würzburg-Ebracher Psalter, der um 1230 entstanden ist. Das Buch ist bekannt für große, über eine Seite gehende Miniaturen und zwölf Kalendertafeln. Die Texte aus den 150 Psalmen aus dem Alten Testament wurden vermutlich von Zisterzienser-Mönchen im Kloster Ebrach mit größter Sorgfalt auf das Pergament gebracht. Davon zeugen auch die besonderen Initialen und die gut erhaltenen, leuchtenden Farben.

„Das sind klassische Naturfarben“, erklärt Sven Kuttner. „Das Rot wurde aus der Kemesschildlaus gewonnen, Grün und Blau aus Steinen wie zum Beispiel Malachit und Lapislazuli.“ Das verwendete Blattgold leuchtet noch heute auf dem Pergament. „Das Buch hat in bald 1000 Jahren nichts von seiner Strahlkraft verloren“, sagt der Bibliothekar, während er vorsichtig darin blättert. Das Werk befand sich ab 1573 im Besitz der UB Ingolstadt, ein Erbstück aus der Stiftung des Augsburger Bischofs Johann Egolph von Knöringen (1537-1575).

Die Nürnberger Koberger-Bibel von 1480

Aufgeschlagenes Buch

Die erste Seite der Nürnberger Koberger-Bibel von 1480 | © LMU

Bei den sogenannten Inkunabeln, also Wiegendrucken aus der Frühzeit des Buchdrucks, steht das erste Buch aus dem Besitz der UB, die Nürnberger Koberger-Bibel von 1480 – ein massives Werk von etwa fünf bis sechs Kilo Gewicht. „Dieses Buch hat eine besondere Geschichte“, erzählt Sven Kuttner. Eine Geschichte, an der sich auch die Geschichte der LMU nachzeichnen lässt, die 1472 in Ingolstadt gegründet wurde, 1800 nach Landshut umsiedelte und seit 1826 in München beheimatet ist.

Die Bibel gehörte einst zum Urbestand der UB Ingolstadt, erkennbar am Wappen der Artisten-Fakultät, die Heilige Katharina mit Schwert und Wagenrad. „Damit sind die ersten Bücher in Ingolstadt ab 1473 nahezu alle einmal ausgestattet worden“, sagt Kuttner. „Irgendwann haben die Jesuiten sich diese Bibel wohl unter den Nagel gerissen. Mit der Auflösung des Jesuitenordens 1773 kam das Buch wieder zurück in die UB Ingolstadt und über Landshut dann nach München.“

Eine der ersten deutschsprachigen Bibel: Das September-Testament von 1522

Geöfnettes Buch

Holzschnitt von Lukas Cranach d. Ä. (1472-1553) im „Septembertestament“ Martin Luthers (von 1522) | © LMU

Die Universität Ingolstadt, aus der später die LMU hervorging, war eine der Herzkammern der Gegenreformation. Ausgerechnet hier gibt es deswegen einen der größten Bestände an reformatorischem Schriftgut – und entsprechend viele besondere und wertvolle Werke, unter anderem aus dem Nachlass Johannes Ecks, einem der größten Widersacher Martin Luthers. „In Ingolstadt hat man professionell Feindaufklärung betrieben“, erklärt Sven Kuttner – und holt eine Ausgabe der ersten Luther‘schen Bibelübersetzung, des September-Testaments von 1522, hervor, an der sich ablesen lässt, wie sich Johannes Eck an Martin Luther abgearbeitet hat.

Die besondere Bibel im Besitz der Münchner UB enthält Holzschnitte von Lucas Cranach, einem Künstler, der mit Luther eng verbunden war, „sein Haus-und-Hof-Illustrator“, wie Kuttner sagt. Er zeigt einige Bilder – die apokalyptischen Reiter, den Holzschnitt eines Drachens mit päpstlicher Tiara, eine Abbildung der Hure Babylon, die ebenfalls die Krone des Papstes trägt. „Da haben Sie antirömische Bildpolemik in den ersten protestantischen Schriften. Aus Wittenberger Sicht ist klar, wer der Feind ist“, sagt Kuttner lachend beim Blättern durch das berühmte Buch.

Kein Wunder also, dass Luthers Widersacher Johannes Eck, dem die Bibel einst gehörte, sie mit zahlreichen eigenen Anmerkungen versah. Marginalien in Ecks Handschrift zeugen von seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem protestantischen Dokument. Die Anmerkungen und Kommentare reichen von Kritik an der Übersetzung und Gegenvorschlägen bis hin zu inhaltlichem Widerspruch. Zum Reformationsjubiläum 2017 wurde das Buch für eine große Cranach-Ausstellung ans Museum Kunstpalast in Düsseldorf ausgeliehen.

Die Waldseemüller-Karte

Waldseemüller-Karte

Gehört zu den berühmtesten Werken der UB: die Waldseemüller-Karte | © LMU

Zu den berühmtesten Werken, die sich in der UB verbergen, gehört die Waldseemüller-Karte, die 2012 in einem anderen Buch entdeckt wurde – ein Zufalls- und Sensationsfund, der international Schlagzeilen machte.

Der Kartograph Martin Waldseemüller gilt als „Taufpate“ Amerikas: Auf einer drei Quadratmeter großen Karte, die Angela Merkel 2007 an die USA übergab und die heute in der Library of Congress in Washington liegt, hatte Waldseemüller vor mehr als 500 Jahren den damals neu entdeckten Kontinent mit der Bezeichnung „America“ eingetragen.

Neben dieser großen Karte fertigte Waldseemüller auch noch eine kleinere Globussegmentkarte an, neben der in München gefundenen Karte sind weltweit nur noch zwei weitere erhalten.

Die Globussegmentkarte des berühmten Kartographen Martin Waldseemüller verbarg sich in einem Sammelband mit zwei Drucken zur Geometrie aus dem 16. Jahrhundert. Die beiden Frühdrucke waren wohl im 19. Jahrhundert verbunden worden. Die Bedeutung der Waldseemüller'schen Karte erkannten die Münchner Bibliothekare damals nicht: Der Band versank mehr als 200 Jahre lang im Dornröschenschlaf des Magazins und überstand sogar unbeschadet die Auslagerung während des Zweiten Weltkriegs.

Der überraschende Fund in der UB löste 2012 eine große Medienresonanz aus. „Ich werde den Tag nicht vergessen“, sagt Sven Kuttner. „Meine Kollegin Elke Humml arbeitete damals an einer Katalogkorrektur. Als ich aus der Mittagspause kam, wartete sie mit einer anderen Kollegin, Gerlinde Geiselmann, auf mich und sagte: Ich habe was gefunden, das sollten Sie sich vielleicht mal anschauen.“

Kuttner schlug das Buch auf und ahnte, was er da vor sich hatte. „Da hat für einen Moment wirklich mein Herz ausgesetzt“, sagt er. „Ich wusste, wenn das Ding echt ist, ist das eine Sensation. Wir haben sofort angefangen, zu recherchieren.“

Gefragt, ob er unter den rund 20.000 besonderen Bänden im Luftschutzbunker noch weitere solche Funde vermutet, schüttelt Kuttner den Kopf. „Sehr wahrscheinlich ist es nicht. Sowas hat man nur einmal im Leben. Den nächsten Fund darf gerne meine Nachfolgerin oder mein Nachfolger machen. Ich sage immer: Eine Seite aus dem Nibelungenlied wäre noch schön.“

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