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Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung: „Schon ein kalter Luftzug kann die Konzentration stören”

20.10.2021

Bunte Stifte, grelles Licht: Vieles kann Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen beim Lernen aus dem Tritt bringen. Ein bundesweit einzigartiges Erweiterungsstudium soll Lehrkräften helfen, sie dabei besser zu begleiten und zu fördern.

Schüler sitzen im Unterricht an ihren Plätzen, die Lehrerin steht erklärend vor der Tafel.

Ziel des Erweiterungsstudiums ist es, Lehrkräften Maßnahmen mitzugeben, damit sie Autismus-sensibel unterrichten können. | © PantherMedia / Arne Trautmann

An Studierende sämtlicher Lehramtsrichtungen wendet sich der Erweiterungsstudiengang „Pädagogik bei Autismus-Spektrum-Störungen“ (P-ASS), der dieses Semester an der LMU startet. Prof. Dr. Reinhard Markowetz, Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik bei Verhaltensstörungen und Autismus einschließlich inklusiver Pädagogik, spricht im Interview über irritierende Buntstifte, Klausuren am Tablet und das Bedürfnis nach klaren Aufträgen.

Herr Professor Markowetz, mit welchen Herausforderungen sind Schülerinnen und Schüler mit einer Autismus-Spektrum-Störung konfrontiert?

Reinhard Markowetz: Was den Schulalltag für diese Kinder und Jugendlichen oft so schwierig macht, sind zunächst ihre unterschiedlichen Probleme in der Wahrnehmung. Manche irritiert der Anblick zu vieler bunter Kugelschreiber auf dem Pult. Andere hindern ein starker Geruch, grelles Licht oder Hitze an der Konzentration. Auch Kälte kann für solche Schüler ein immenser Störfaktor sein – gerade jetzt in der Corona-Zeit, wo alle 20 Minuten gelüftet werden muss. Zudem können sie sprachlich manchmal nur schlecht ausdrücken, was sie stört und vom Lernen abhält.

Viele haben auch Probleme im Sozialverhalten. Dabei ist Schule ja ein Gemeinschaftsunternehmen, in das Schüler sich einfügen und einbringen sollten – aber genau das fällt Autisten oft sehr schwer. Und gerade im Grundschulunterricht, der heute erfreulicherweise sehr material- und freiarbeitsorientiert ist, haben autistische Jungen und Mädchen oft Probleme, sich mit anderen zu Gruppenarbeiten zusammenzuschließen oder am Regal selbstständig eine Mappe mit Lernaufträgen zu wählen und zu organisieren.

Mit welchen Herausforderungen sind dementsprechend die Lehrkräfte konfrontiert?

Infolge der Irritationen, die autistische Kinder als sehr stark empfinden, verhalten sie sich zuweilen ungewöhnlich: Sie laufen während des Unterrichts im Klassenzimmer herum, wedeln – um ihre Aufregung irgendwie zu verarbeiten – stereotyp mit den Fingern vor den Augen oder melden sich ständig, um dann aber unpassende Antworten zu geben. Zudem können manche sich schwer in andere hineinversetzen, was dann rasch als Gefühlskälte missinterpretiert wird. Und dass manche ihrem Gegenüber nicht in die Augen sehen, kann auch für eine Lehrkraft verunsichernd wirken. Schnell sind Störungen im Unterricht da, die schon mal in aggressives Verhalten umschlagen. Dass jeder fünfte Schüler mit Autismus-Spektrum-Störung schon einmal vom Unterricht ausgeschlossen wurde, zeigt, wie schwierig es für Lehrer ist, auf sie angemessen zu reagieren.

Inwieweit werden Pädagogen bislang im Umgang mit autistischen Kindern unterstützt?

In Bayern haben wir den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) mit seiner Sondervariante „Autismus” (MSD-A). Dabei besuchen Sonderschulpädagogen die Schulen und beraten die Lehrkräfte im Umgang mit den autistischen Schülerinnen und Schülern. Eine grundsätzlich sehr gute Einrichtung, die meiner Meinung nach aber nicht ausreicht. An den Schulen wäre eine stärkere Präsenz von Pädagogen nötig, die mit autistischen Kindern und Jugendlichen umgehen können und vor allem wissen, warum sie sich so ungewöhnlich verhalten und wie man sie schulisch fördern und unterstützen kann.

Inwieweit kann das neue Erweiterungsstudium helfen, das am Montag an der LMU startet?

Bundesweit einzigartig richten wir uns damit nicht nur an künftige Sonderschulpädagogen, sondern an Studierende sämtlicher Lehrämter – von Förder- über Grund-, Mittel- und Realschule bis zum Gymnasium und auch Berufsschulen. Denn an all diesen Schulen werden Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen heute beschult. Dass sich auf Anhieb 65 Studierende all dieser Fachrichtungen für unser nicht zulassungsbeschränktes Studium immatrikuliert haben, hat uns überwältigt. Bislang einzigartig ist an dem Studiengang auch, dass Studierende sich schon in einer frühen Phase der Ausbildung mit dieser besonderen Schülerschaft vertraut machen können, wobei auch Lehrerinnen und Lehrer sich einschreiben können, die bereits im Schuldienst sind.

Ist die Zahl von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen denn gestiegen oder lässt sich diese Beeinträchtigung heute nur besser diagnostizieren?

Die Kinder- und Autismus-Kompetenz-Zentren, an die Eltern sich oft auf der Suche nach Erklärungen für das Verhalten ihrer Kinder wenden, sind mit Diagnosen sehr vorsichtig. Wegen der sehr großen Bandbreite spricht man heute auch meist nicht mehr von „Autismus” an sich, sondern eben von „Autismus-Spektrum-Störung”.

Tatsächlich steigt die Zahl betroffener Heranwachsender stetig leicht an. Ein Hauptgrund ist sicher, dass die Leitlinien und die Instrumente zur Erfassung von Verhaltensweisen im Autismus-Spektrum immer feiner und genauer werden. Aber auch Umweltvariablen, die Einfluss auf die menschliche Entwicklung nehmen und natürliche Reifungsprozesse stören, werden diskutiert.

Der Anteil von Autisten an der Gesamtbevölkerung beträgt aktuell ein Prozent. Expertenschätzungen gehen aktuell sogar schon von drei Prozent aus. Im Spiegel dieser Prävalenzraten dürften in Bayern zwischen 10.000 und 17.000 Schüler aus dem Autismus-Spektrum schulisch gefördert werden.

Wie kann man diesen Kindern und Jugendlichen das Lernen erleichtern?

Es gibt eine ganze Reihe „Autismus-sensibler Maßnahmen“, die die Teilnehmer unseres Erweiterungsstudiengangs erlernen: Zum Beispiel können Bildkarten einer besseren Verständigung dienen, Materialien, die Handlungsabläufe wie das Händewaschen visualisieren, die Ausführung erleichtern, Kopfhörer die Schüler vor Lärm und Irritationen schützen. Signale, Uhren und Zeitpläne können für eine zeitliche Struktur sorgen und Teppiche oder Vorhänge, die bestimmte Bereiche markieren, helfen die Lern- und Aufenthaltsräume zu strukturieren und die Konzentration zu befördern. Schülerinnen und Schüler mit motorischen Problemen sollten im Sportunterricht Übungen auslassen dürfen; viele sind dankbar für klare Arbeitsaufträge statt Freiarbeit und freuen sich über Rückzugsräume mit Entspannungsmöglichkeiten. Zudem haben Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störung das Recht auf Nachteilsausgleiche, dürfen eine Klausur zum Beispiel am Tablet schreiben statt mit dem Füllfederhalter.

Unseren Studierenden wollen wir einen ganzen „Rucksack” solcher Maßnahmen mitgeben, mit denen sie Schülerinnen und Schüler auf ihrem Bildungsweg individuell und bestmöglich unterstützen und letztlich Autismus-sensibel unterrichten können.

Erweiterungsstudium Pädagogik bei Autismus-Spektrum-Störungen: Infobroschüre

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