Kinder sollen „Guten Tag“ und „Danke“ sagen, teilen und bloß niemandem im Sandkasten die Schaufel aus der Hand reißen. Von klein auf lernen sie von Erwachsenen, welche Regeln das gesellschaftliche Miteinander bestimmen. Solche Normen seien wie ein „sozialer Kitt“ und spielten eine wichtige Rolle in der Entstehung und Aufrechterhaltung menschlicher Kooperation und Kultur, sagt Dr. Marco F. H. Schmidt, der an der LMU die Forschergruppe „Developmental Origins of Human Normativity“ leitet. Mit seinem Team untersucht er, ab wann und wie Kleinkinder ein Normverständnis entwickeln und welche psychologischen und motivationalen Mechanismen dieser Entwicklung zugrunde liegen.
In einer Studie, die aktuell in der Fachzeitschrift Psychological Science veröffentlicht ist, zeigt Marco F. H. Schmidt in Zusammenarbeit mit Lucas P. Butler (Assistant Professor an der Universität Maryland), Julia Heinz und Professor Michael Tomasello (Co-Direktor am MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig) nun, dass Dreijährige soziale Normen nicht nur, wie klassisch angenommen, durch direkte Anweisung und Verbote lernen, sondern eigenständig nach Normen suchen und diese sogar dort unterstellen, wo Erwachsene gar keine sehen. „Vorschulkinder verstehen individuelle Verhaltensweisen und spontane Handlungen anderer sehr schnell als verallgemeinerbar, regelgeleitet und verbindlich“, sagt Schmidt.
Innige Beziehung zu sozialen Normen In der Studie, die Schmidt am MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig geleitet hat, von dem er im Oktober 2015 an die LMU gewechselt ist, ließ der Entwicklungspsychologe Dreijährige spontane Handlungen von Erwachsenen zufällig beobachten. In einer Situation sahen die Kinder wie eine Person, die sie nicht kannten, Werkzeuge und andere Objekte aus ihrer Tasche, in einer anderen Variante gar nutzlose Gegenstände aus einem Müllbeutel herauskramte. Mit diesen Gegenständen führte die Person dann für sich spontan eine kurze, zielgerichtete Handlung aus, ohne dies zu kommentieren. Zum Beispiel wurde ein Stück Rinde mit einem Ast etwas über den Tisch gezogen. In weiteren Varianten wurde die gleiche Handlung spontan und minimal pädagogisch (mit der Aufforderung „Guck mal!“) oder unabsichtlich (mit einem laut geäußerten „Ups!“) ausgeführt. Egal, was die Kinder sahen: Sie beurteilten singuläres, spontanes und scheinbar zweckloses Verhalten als verallgemeinerbar und unbedingt richtig, solange es ihrer Beobachtung zufolge nicht unabsichtlich war. Sie erwarteten sogar, dass ein anderer es genauso machen würde und protestierten, wenn dieser anders mit den Gegenständen umging und somit gegen die von den Kindern unterstellte „soziale Norm“ verstieß. „Vorschulkinder erliegen dem Trugschluss, auf den schon der schottische Philosoph David Hume hinwies, dass das, was ist, auch so sein soll. Das gilt auch, wenn sie eine einfache Handlung zufällig und nur ein einziges Mal beobachtet haben und nichts dafür spricht, dass diese einer Norm oder Regel unterliegt“, sagt Schmidt. „Diese Befunde legen daher nahe, dass Kinder früh, sogar ohne direkte Instruktion, weitreichende Schlussfolgerungen über die soziale Welt ziehen, in der sie leben“, sagt Lucas P. Butler.
Psychologisch gesehen, so Schmidt, könnte diese frühe grundlegende Neigung von Kindern, die soziale Welt als inhärent normativ und regelgeleitet zu sehen, Ausdruck ihrer Motivation sein, Dinge gemeinsam zu machen, sich mit ihrer kulturellen Gruppe zu identifizieren und kulturelles Wissen zu erwerben. „Es ist möglicherweise unsere gemeinsame ‘innige Beziehung‘ zu sozialen Normen, die menschliche Gesellschaften im Innersten zusammenhält“, sagt Marco F. H. Schmidt. (Psychological Science 2016)
Mehr zur Forschung von Dr. Marco F. H. Schmidt : Elitenetzwerk Bayern: Nachwuchsforschergruppe für LMU (vom 22.12.2014)