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Klimawandel: „Die bisherigen Risiko-Abschätzungen waren zu optimistisch“

20.05.2022

Die Weltgemeinschaft hat nicht mehr viel Zeit zum Handeln. Ein Interview mit LMU-Geograph Matthias Garschagen über die Folgen der Erderwärmung und die Risiken der Anpassung.

Ein Fahrrad ist nach einer Sturmflut halb überspült.

© IMAGO / Markus / Tischler

Das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, ist gefährdet. Auf diesen Wert hatte sich die Weltgemeinschaft beim Pariser Klimaabkommen geeinigt. Eine Studie der Weltorganisation für Meteorologie zeigt nun: Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Wert bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre temporär in einzelnen Jahren überschritten wird, liegt inzwischen bei 50 Prozent.

Matthias Garschagen, Inhaber des Lehrstuhls für Anthropogeographie mit dem Schwerpunkt Mensch-Umwelt-Beziehungen am Department Geographie der LMU, weiß, dass der Welt nicht mehr viel Zeit zum Handeln bleibt. Der LMU-Geograph ist einer der Leitautoren des zweiten Sachstandsberichts des Weltklimarat. Zur Veröffentlichung des Berichts am 28. Februar 2022 gab Matthias Garschagen folgendes Interview, das von drängender Aktualität ist. Darin erläutert der Klimaforscher auch, warum ein großer Schwund der Biodiversität zu befürchten ist.

Worum geht es in dem Sachstandsbericht?

Matthias Garschagen: Im IPCC gibt es drei Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die zweite Arbeitsgruppe, deren Bericht jetzt veröffentlicht wurde, bewertet die Folgen des Klimawandels.

Der Bericht befasst sich vor allem mit den Risiken und Auswirkungen sowie der Anpassung an den Klimawandel. Er fasst den Sachstand der wissenschaftlichen Debatte, die ja sehr umfassend ist, zusammen und bereitet ihn für politische Entscheidungsträger auf. In der Klimawandelforschung gibt es eine große Zahl an Publikationen, gerade auch zur Abschätzung von Risiken und Verwundbarkeiten sowie zu den Anpassungsmöglichkeiten an den Klimawandel. Der Bericht hilft beim Verständnis, ob wir als Weltgemeinschaft auf einem Kurs sind, mit dem wir die Risiken des Klimawandels entsprechend dem Pariser Abkommen im Griff halten können. Er ist sehr wichtig, um die politische Entscheidungsfindung zur Klimaanpassung ganz konkret auf der globalen, aber auch auf der nationalen und lokalen Ebene zu unterstützen.

Was sind für Sie wesentliche Erkenntnisse aus dem Bericht?

Garschagen: Der Befund der Wissenschaft ist eindeutig: Klimawandel stellt eine massive Gefahr für das Wohlergehen der Menschheit und des Planeten insgesamt dar. Unverzügliches und zielstrebiges Handeln im Bereich des Klimaschutzes, aber auch der Anpassung an die Folgen des Klimawandels ist wichtiger denn je, um sich auf die Auswirkungen einzustellen und weitere Risiken im Rahmen zu halten. Zum einen hat die bisherige Erwärmung um 1,1°C bereits zu weitreichenden, zum Teil irreversiblen Schäden in Ökosystemen geführt und das Leben von Milliarden von Menschen in Mitleidenschaft gezogen. Zum anderen haben wir in der Zukunft mit erheblichen, weiteren Risiken zu rechnen, und zwar früher und stärker, als im letzten Sachstandsbericht angenommen. Der Wissensstand ist nun größer und noch genauer als zum Zeitpunkt des letzten Berichts vor sieben Jahren. Die bisherigen Risiko-Abschätzungen waren zu optimistisch. Wir haben es immer mehr mit Verflechtungen und Komplexitäten im System zu tun, durch die sich Risiken gegenseitig hochschaukeln, etwa wasserbezogene und nahrungsmittelbezogene Risiken. Diese Komplexität hat die Wissenschaft erst in den letzten Jahren verstärkt in den Blick genommen.

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Gibt es Fortschritte bei der Klimaanpassung?

Garschagen: Wir sehen, dass die Klimawandelanpassung ordentlich voranschreitet. Wir haben eine ganze Menge Anpassungsaktivität in allen Erdregionen und auch in allen Sektoren gefunden. Der Bericht kommt allerdings zur Erkenntnis, dass die momentan geleistete Anpassung nicht ausreichen wird, um die Risiken ausreichend zu minimieren oder gravierende Risiken abzuwenden. Momentan ist Anpassung häufig sehr kurzfristig, fragmentiert und kleinräumig gedacht und verbleibt in sektoralen Schubladen. Es geht häufig um die Optimierung des Status quo, aber nicht um ein fundamentales Umdenken bei der Gestaltung der Anpassung. Beispiele finden sich in Küstenräumen oder großen Städten: Wie passen wir die Landnutzungsplanung langfristig und vorausschauend an? Welche Bereiche müssen wir eventuell grundsätzlich infrage stellen und aus dem Küstenschutz herausnehmen, weil es zu teuer wird? Wo müssen wir in Städten bezüglich des Umgangs mit Hitze noch fundamentaler umdenken, etwa was Stadtbegrünung betrifft? Wie müssen wir soziale Sicherungssysteme grundsätzlich umgestalten? Da sehen wir noch relativ wenig Anpassung.

Geht es dabei vor allem um technische Anpassungen?

Garschagen: Das denkt man oft und das ist auch ein Großteil der Debatte, aber der Bericht zeigt sehr deutlich, dass der Hauptteil der derzeit stattfindenden Anpassung sehr stark auf Verhaltensänderungen abzielt. Da geht es beispielsweise darum, ob Bauern – gerade auch Kleinbauern etwa in ariden Gebieten – ihre Anbaumuster ändern, die Zeit der Aussaat oder Bewässerungsmechanismen. Es geht also nicht immer nur um die ganz großen technischen Lösungen, sondern es sind kleinere Verhaltenslösungen, häufig auch auf der Ebene individueller Haushalte, bäuerlicher Betriebe oder kleiner Unternehmen.

Ganz im Gegenteil sehen wir im Bereich der technischen Lösungen sogar häufig sogenannte Maladaption, also fehlgeleitete oder nicht zielführende Anpassung, die Risiken am Ende des Tages sogar verstärken kann. Viele Küstenstädte beispielsweise betreiben primär Hochwasserschutz, indem sie versuchen, sich gegen Meeresspiegelanstieg oder stärkere Sturmfluten abzuschotten. Das ist kurz- und mittelfristig sicherlich notwendig und sinnvoll, kann langfristig aber zu einer Verschiebung oder gar Verstärkung des Problems führen, wenn dieser Hochwasserschutz in 80 oder 100 Jahren doch zu teuer wird oder nicht mehr belastbar ist, in der Zwischenzeit aber weitere Infrastruktur hinter den vermeintlich sicheren Deichen angehäuft wurde.

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Welche Bereiche werden am stärksten betroffen sein von Risiken des Klimawandels?

Garschagen: Wir sehen – und das ist auch ein Kernbefund des Berichts – Auswirkungen in allen Bereichen. Wir sehen starke Auswirkungen in allen Erdregionen und auch in allen Sektoren, beispielsweise bei der Infrastruktur, in den Siedlungen und Gebäuden, in der Nahrungssicherung, in der Landwirtschaft oder im Fischfang.

Als Hotspot der Klimawandelrisiken mit sehr problematischen Verflechtungen ist zum Beispiel die Arktis zu nennen. Dort sehen wir sowohl überdurchschnittliche Klimawandelveränderungen als auch überdurchschnittlich große Auswirkungen. Dazu gehört das Auftauen des Permafrostes mit enormen Risiken für die Infrastruktur, etwa Straßen und Siedlungen. Oder für indigene Gruppen, für die das Auftauen des Meereises eine ganze Lebensform infrage stellt, die unter anderem darauf beruht, Jagd auf dem Eis zu betreiben.

Starke Betroffenheit sehen wir auch im Bereich vieler Entwicklungs- und Schwellenländer, wo eine hohe Grundverwundbarkeit mit einer geringen Anpassungskapazität einhergeht. Viele Bereiche in Afrika sind gleich von mehreren Klimaauswirkungen betroffen – Trockenheit, Dürre, Temperaturveränderungen – und haben im globalen Vergleich wenig Kapazitäten, damit umzugehen.

Wieviel Spielraum in der Anpassung haben wir denn noch?

Garschagen: Der Bericht zeigt, dass Anpassung effektiv sein kann, aber dass sie nicht in der Lage sein wird, alle Risiken zu eliminieren. Gerade bei Erwärmungspfaden, die uns auf eine Temperaturzunahme von 3°C oder sogar mehr bis zum Ende des Jahrhunderts bringen, sehen wir deutliche Anzeichen, dass zumindest unsere momentane Anpassungsplanung nicht ansatzweise ausreichen wird, den Zuwachs an Risiken zu kompensieren.

Selbst wenn wir die 2°C-Grenze einhalten, zeigt der Bericht, dass in vielen Erdregionen die Grenzen der Anpassung erreicht werden, insbesondere in denen mit geringen Anpassungskapazitäten. Wir stellen das im Übrigen auch in Ökosystemen fest, etwa bei vielen Warmwasserkorallen. Teilweise erreichen wir Grenzen jetzt schon und sehen, dass Anpassung nicht mehr effektiv sein wird, um die Risiken vollkommen auszugleichen.

Und wenn die Grenzen der Anpassung erreicht sind?

Garschagen: Risikoabschätzungen deuten darauf hin, dass es über den Verlauf des Jahrhunderts zu einem großen Artensterben kommen wird, weil Spezies nicht mehr in der Lage sein werden, sich an die Veränderungen – etwa des Niederschlags, der Temperatur oder der Wanderung von Vegetation –anzupassen. Der Bericht zeigt, dass wir viel stärker innerhalb dieser Grenzen der Anpassungsfähigkeit bleiben können, wenn wir es schaffen, die Temperaturerhöhung auf 1,5°C oder 2°C zu begrenzen. Anpassungsgrenzen werden aber viel häufiger und weitreichender gesprengt in einer 3°C oder 4°C wärmeren Welt am Ende des Jahrhunderts.

Welche Konsequenzen sollten aus dem Bericht gezogen werden?

Garschagen: Ich sehe vor allem zwei Konsequenzen. Als Erstes müssen wir Klimaschutz sehr zügig und sehr effektiv vorantreiben. Idealerweise sollte die Erwärmung 1,5°C nicht überschreiten, auf jeden Fall müssen 2°C gehalten werden. Die Zeit ist sehr begrenzt. Auch sollten wir sogenannte Overshoots vermeiden, wie der Bericht sehr deutlich zeigt. Hinter diesem Begriff steckt der Gedanke, jetzt für einige Jahre oder Jahrzehnte eine stärkere Erwärmung zuzulassen, weil wir derzeit noch keine ausreichenden Lösungen haben, um etwa Kohlenstoffsenken zu schaffen, diese aber in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts schon hinbekommen werden und die Temperatur dann wieder senken können. Das ist erstens eine sehr große Wette auf die Zukunft – wer weiß, ob wir dann in der Zukunft genügend politischen Willen und technische Lösungen aufbringen können. Zweitens, und das ist sehr wichtig, zeigt der Bericht deutlich, dass es auch bei solchen Overshoot-Pfaden zu sehr starken und in vielen Fällen unumkehrbaren Auswirkungen kommen wird, wenn man z. B. an das Abschmelzen von Gletschern oder Meereis denkt. Diese Auswirkungen gilt es zu vermeiden, auch weil sie zu selbstverstärkenden Prozessen im Klima führen und eine Trendumkehr später sehr viel schwieriger machen.

Die Ergebnisse des Berichts zeigen darüber hinaus eine zweite, sehr wichtige Konsequenz auf: Klimaschutz alleine ist kein Allheilmittel. Wir müssen verstärkt in Klimawandelanpassung investieren, da einige Risiken jetzt schon unausweichlich und unumkehrbar sind. Es gibt bereits einen gewissen Meeresspiegelanstieg im System. Daran müssen wir uns frühzeitig anpassen und dabei wesentlich systemischer und integrierter denken, als es bislang der Fall ist. Bisher findet Klimaanpassung nicht tiefgreifend genug statt und ist oft reaktiv. Das wird zu Problemen führen, weil auch Anpassung lange Vorlaufzeiten hat, wie der Bericht sehr deutlich zeigt. Die Erstellung eines neuen, effektiveren Flächennutzungsplans für eine Küstenstadt und der Bau von umfassender Bewässerungsinfrastruktur haben eine Vorlaufzeit von teilweise 10 bis 20 Jahren, das müssen wir frühzeitig in Angriff nehmen.

Sehen Sie die Politik da auf dem richtigen Weg?

Garschagen: Wir sehen, dass es in der Politik viele Planungen zur Anpassung gibt. Es gibt viele Länder, die nationale Anpassungsstrategien aufgestellt haben. Aber die Literatur zeigt, dass die Umsetzung dessen oft weit hinter den politischen Ankündigungen zurückbleibt. Wir sehen daher auf fast allen Ebenen und in allen Bereichen Anpassungslücken. Bestehende Pläne müssen also mit mehr Nachdruck umgesetzt werden. Zudem müssen langfristige Anpassungsziele konkretisiert werden. Schwierige Abwägungen und Entscheidungen wie beispielsweise zur Kostenteilung innerhalb von Gesellschaften dürfen dabei nicht länger aufgeschoben werden, sondern müssen frontal angegangen werden. Ein Befund aus dem Bericht ist, dass dies im Moment noch nicht gut genug funktioniert.

Interview: Monika Gödde

© LMU

Prof. Dr. Matthias Garschagen, Inhaber des Lehrstuhls für Anthropogeographie mit dem Schwerpunkt Mensch-Umwelt-Beziehungen am Department Geographie der LMU, ist einer der Leitautoren des Kapitels 16 des aktuellen Sachstandsberichts, in dem Schlüsselrisiken des Klimawandels sowie die Anpassungskapazitäten und -grenzen übergreifend zusammengefasst und bewertet werden. Er gehörte außerdem zu den Forschenden, die im letzten Schritt das zwanzigseitige „Summary for Policymakers“ mit Delegationen aus 195 Staaten Satz für Satz durcharbeiteten und verabschiedeten. Am Ende des Prozesses steht ein Werk, das weltweit anerkannt den derzeitigen Stand der Wissenschaft präsentiert. Zudem wurde Garschagen vom Weltklimarat auch als Kernautor für den im Herbst erwarteten Synthesebericht des sechsten Bewertungszyklus berufen.

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