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Krise als Chance

27.11.2019

Anlässlich der Jahrestagung „Krisengefüge der Künste“ spricht der Theaterwissenschaftler Christopher Balme über deutsche Kulturpolitik, die Widerstände gegen den Intendanten Matthias Lilienthal und Krisen als Motor für Veränderungen.

Unter dem Titel „Krisengefüge der Künste“, kommen am 28. und 29. November 2019 in München Geistes- und Sozialwissenschaftler der gleichnamigen DFG-Forschungsgruppe zusammen, um über die deutsche Kulturpolitik und kulturpolitische Dynamiken in den darstellenden Künsten zu diskutieren.

Seit der Wiedervereinigung zeigt sich in Deutschland immer deutlicher ein Phänomen in der deutschen Theaterlandschaft: Öffentlich geförderte Kultureinrichtungen sind langfristig in ihrer Existenz bedroht. Hat sich das Tempo in letzter Zeit erhöht? Christopher Balme: Das Phänomen tritt in Phasen auf. Die Bedrohungslage war schon mal schlimmer. Im Moment ist die akute Bedrohung nicht so ausgeprägt, außer in manchen Theatern in den neuen Bundesländern.

Was steckt hinter dem Phänomen? Wir beobachten eine zunehmende Verkomplizierung der Lage in der Kulturpolitik. Immer mehr Akteure treten hier auf den Plan. Dadurch wird das althergebrachte Modell, das eine zurückhaltende kulturpolitische Steuerung vorsah, unübersichtlicher. Normalerweise unterhält entweder eine Stadt oder ein Bundesland ein öffentliches Theater oder Konzerthaus. Die kulturpolitische Steuerung reduzierte sich meist auf die Berufung eines Intendanten oder Dirigenten, machte sich also faktisch nicht bemerkbar.

Woher kommen die neuen Akteure? Es gibt beispielsweise die Bundeskulturstiftung, also eine Einrichtung des Bundes. Sie stellt Geld bereit, vor allem für die freie Szene. Dieser neue Akteur schafft Anreize, bestimmte Ästhetiken zu entwickeln oder Kooperationen mit öffentlichen Theatern einzugehen.

Das klingt doch zunächst nach einem Zusatzangebot. Warum sprechen manche Forscher dennoch von einer Krise des Systems? Es herrscht eine gewisse Unübersichtlichkeit. Die größten Herausforderungen liegen darin, die verschiedenen Strömungen und Akteure, auch die Diskurse zu steuern und zu bündeln. Eine Stadt wie München berief im Jahr 2015 Matthias Lilienthal als Intendanten der Münchner Kammerspiele mit dem Wunsch, das Stadttheater neu zu denken. Das war ein bewusster kulturpolitischer Schritt. Dagegen gab es in den Jahren danach massiven Widerstand seitens der Presse und der Öffentlichkeit. Wir sehen auch hier verschiedene Akteure: die eigentliche Kulturpolitik, die Presse, die Öffentlichkeit und überregionale Stiftungen. Das macht die Situation komplexer.

Die Kritik an Matthias Lilienthal war zwischenzeitlich enorm. Ein Teil der Öffentlichkeit begriff die vermeintliche Krise des Theaters aber auch als Chance. An den Münchner Kammerspielen war trotz der Kritik eine Öffnung für neue Formen und Formate zu beobachten, mit Erfolg: Die Kammerspiele sind als „Theater des Jahres 2019“ ausgezeichnet worden. Inwiefern sind Krisendiskurse und ihre Ursachen auch Motor für Veränderungen? Wir betrachten solche Diskurse tatsächlich als Motor für institutionellen Wandel. Sie beschleunigen die Transformationsdynamiken, das ist die Kernthese unserer DFG-Forschungsgruppe. Man muss diese Fragen auf verschiedenen Ebenen untersuchen, auf der Ebene der Öffentlichkeit etwa oder der Arbeitnehmer in Theatern, der Darsteller und der Techniker. Wir werden auf einem Panel der Tagung erste Ergebnisse einer Mitarbeiterbefragung an sechs Stadttheatern präsentieren. Da wird man Einblicke in die innere Befindlichkeit eines Theaters bekommen.

Öffentliche Diskussionen um einzelne Einrichtungen gibt es interessanterweise auch bei Einrichtungen, die gefestigte Publikumsstrukturen haben. Was steckt dahinter? Hier geht es oft um die sich ändernde Struktur einer Stadtgesellschaft, das ist auch ein wichtiges Thema. Wir untersuchen auch die Akzeptanz der öffentlichen Theater durch die Stadtgesellschaft. Auch hier ist der Wandel spürbar.

Wodurch wird er ausgelöst? Da gibt es zum einen die Generationenfrage. Wir beobachten hier einen Bruch. Die althergebrachte Praxis des Ins-Theater-Gehens oder das Theater-Abonnement werden nicht mehr selbstverständlich an die nächste Generation weitergegeben. Theater müssen hier mit vielfältigen Vermittlungsangeboten dagegenhalten, um die nächste Zuschauergeneration heranzuziehen. Auch die Migrationsfrage spielt eine Rolle: Wie weit sind Menschen aus anderen Kulturkreisen überhaupt an den klassischen Theatern und Orchestern interessiert, die gleichzeitig den Löwenanteil an Kulturförderung erhalten?

Auch hier ist Matthias Lilienthal ein gutes Beispiel. Er hat ja in München versucht, die Kammerspiele für Geflüchtete zu öffnen. Ist das ein Weg? Das war sicher ein Weg, ein Theater in doppeltem Sinne zu öffnen, zum einen Angebote in englischer oder sogar arabischer Sprache zu machen, zum anderen neue Spielkontexte außerhalb des Theatergebäudes selbst zu erschließen. Man geht hinaus in die Stadt. Darüber stellte er die grundsätzliche Frage: Was heißt es, ein Theater einer vielfältigen Stadtgesellschaft zu sein? Lilienthal wählte hier einen eher radikalen Weg. Man hat das zunächst abgewehrt, auch Chris Dercon musste als Intendant der Volksbühne in Berlin gehen. Viele Kritiker denken vielleicht, dass man nach der erfolgreichen Abwehr wieder zum vorherigen Normalzustand zurückkehren kann. Meines Erachtens wird das aber nicht gelingen.

Prof. Dr. Christopher Balme ist Inhaber des Lehrstuhls für Theaterwissenschaft an der LMU und Teilprojektleiter der DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“.

Informationen: Jahrestagung der DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ – Kulturpolitische Dynamiken in den darstellenden Künsten. Legitimation, Steuerung, AushandlungsprozesseOrt: Studiobühne TWM, MünchenInteressierte können sich kostenfrei anmelden unter: krisengefuege@lmu.de

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