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Kulturelle Vielfalt im China der frühen Neuzeit

11.10.2022

Professor Max Oidtmann ist seit Januar 2022 Lehrstuhlinhaber am Institut für Sinologie der LMU. Sein Thema ist die Quing-Dynastie, eine Epoche, die wie ein Gegenbild zum heutigen China anmutet.

Die Geschichte Ostasiens im 19. Jahrhundert mag für die Krisen, mit denen das heutige Europa konfrontiert ist, irrelevant erscheinen. Doch der Sinologe Max Oidtmann argumentiert, dass jene durchaus eine Rolle spielen kann. „Die plötzliche und unerwartete Niederlage der jahrhundertealten chinesischen Qing-Dynastie in den 1840er-Jahren erinnert uns daran, welche Vorteile diejenigen haben, die sich schnell neue Energieformen aneignen können. In einem kürzlich geführten Gespräch, das Verbindungen zwischen dem Krieg in der Ukraine, der Energiekrise in Europa und China herstellte, habe ich auf die revolutionäre Bedeutung der Kohlekraft vor fast 200 Jahren hingewiesen.“ Im Opiumkrieg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vernichteten die Briten die chinesischen Dschunken mit ihren viel schnelleren und wendigeren, weil mit Kohle angetriebenen Kriegsschiffen. „Die hatten zwar nur die Maschinenleistung, die der eines Honda Civic von heute entspricht“, so Oidtmann. Aber es hat für die Engländer gereicht, den Krieg schließlich für sich zu entscheiden, ihre Dominanz in China zu etablieren und das Land durch ungebremsten Opiumhandel zu destabilisieren“, sagt Oidtmann. Auch die Ukraine-Krise spielt sich fast ausschließlich im Rahmen dieses auf fossilen Brennstoffen basierenden Energiesystems aus dem 19. Jahrhundert ab. „Der einzige Ausweg für Europa ist letztlich der Übergang zu einem alternativen Energiesystem, das auf einer Kombination aus Atom- und Solarenergie beruht. Und auch daran arbeitet China derzeit.“

Die Quing-Dynastie von der Zeit ihrer Entstehung im 16. bis zu ihrem Ende im 19. Jahrhundert ist der Forschungsgegenstand von Max Oidtmann, der bis zu seiner Berufung an die LMU am Campus der Washingtoner Georgetown Universität in Doha, Katar, geforscht hat. In der Quing-Epoche erreichte China durch Expansion unter anderem in die zentralasiatischen Steppengebiete, nach Tibet oder in die Mongolei seine größte geographische Ausdehnung. „Mich interessiert, wie es diesem Riesenreich gelungen ist, die neu vereinnahmten Gebiete mit ihrer Vielzahl an unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Religionen über einen so großen Zeitraum erfolgreich zu regieren“, umreißt Oidtmann sein Spezialgebiet. Dabei interessieren den Sinologen nicht nur administrative, sondern auch rechtliche, kulturelle und militärische Aspekte, die hierbei eine Rolle spielten.


Prof. Dr. Max Oidtmann

Professor Max Oidtmann forscht seit Januar 2022 am Institut für Sinologie der LMU.

© vzign

Diversität als Erfolgsrezept

Es gelang den Regierenden, die verschiedenen Gemeinschaften durch Koalitionen in das Staatsgefüge einzubinden. Der Staat versuchte zwar, indigene Traditionen zu regulieren und zu modifizieren, und unterdrückte mitunter gewaltsam Gruppen, die er als bedrohlich empfand, aber häufiger versuchte er, verschiedene und zuvor fremde Kulturen zu fördern oder zu integrieren. „Lokale Konflikte konnten die Quing-Herrscher sogar nutzen, indem sie sich etwa mit ihnen genehmen Parteien zusammentaten und so Unterstützer fanden und Koalitionen stärken konnten.“

Ein Bewusstsein für Diversität, so Oidtmann, kennzeichne die Quing-Epoche in bedeutendem Maße. „Minoritäten wurden nicht als solche behandelt. Sie sahen sich selbst auch nicht so, sondern betrachteten sich als rechtmäßige Bewohner ihrer jeweiligen Regionen. Die Quing-Herrscher strebten keine homogene, jedoch eine loyale Gesellschaft an“, erläutert der Sinologe.

Schwierige Forschungsbedingungen

Wichtig für seine Forschung ist auch immer die Gegenwart, die ohne historische Rückschau nicht zu verstehen sei. Im heutigen China sieht Oidtmann massive Unterschiede insbesondere zur Epoche der Quing-Dynastie. „In der kommunistischen Partei Chinas gibt es einen Konsens darüber, dass Diversität gefährlich ist. Vor allem ethnische Minoritäten sind ihr ein Dorn im Auge – wie man an der Behandlung etwa der Uiguren sehen kann.“ Ebenso strebe man eine weitgehende Vereinheitlichung der Gesellschaft in kultureller Hinsicht an, in der sowohl bestimmte Dialekte oder differierende Traditionen möglichst vermieden werden sollen. „Das Problem bei der jetzigen Regierung unter Xi Jinping ist, dass sie ein besonderes historisches Narrativ bemüht, um ihre Politik zu legitimieren. Dieses verbindet einige durchaus rechtmäßige Klagen über die Behandlung Chinas in der Vergangenheit zu einer Geschichte darüber, warum die Kommunistische Partei und das chinesische Volk eine einzigartige und besondere Rolle in der Welt spielen müssen. Das ist ein gefährliches Narrativ, ähnlich dem, wie es die russische Regierung bemüht, um den Einmarsch in der Ukraine zu legitimieren.“

Auch vor diesem Hintergrund findet Max Oidtmann die Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart Chinas enorm wichtig. „In den USA, in Kanada oder in Europa gibt es tatsächlich wenig Wissen über die unterschiedlichen Kulturen in China. Die Vorstellung, die wir haben, ist die eines konstanten und in punkto Kultur und Politik sehr uniformen Staatswesens.“ Er selbst konnte nicht nur als Student, sondern in den frühen 2000er-Jahren auch als Mitarbeiter einer Firma aus Hongkong viel Erfahrung über die Lebensbedingungen im Westen Chinas sammeln. „Das Unternehmen, bei dem ich tätig war, hatte die Aufgabe, gleichsam als Mittler Geschäftsleute und lokale Administrationen und Entscheidungsträger zusammenzubringen, um die wirtschaftliche Entwicklung der Region auf ostchinesisches Niveau voranzutreiben.“


Faktisch ein geschlossenes Land

Die kulturelle Vielgestaltigkeit und Komplexität im Westen des Landes faszinieren ihn bis heute und waren der Grund, sich damit schließlich auch wissenschaftlich intensiv zu befassen. In den vergangenen Jahren konstatiert der Historiker allerdings einen dramatischen Wandel in der chinesischen Politik, der es auch Forschenden vor allem aus dem Ausland erschwert, ihre Arbeit ungehindert fortzusetzen.

„Als ich 2007 begann, in dem Bereich zu arbeiten, gab es nicht viele Hindernisse. Es war nicht sehr schwer, gemeinsame Kollaborationen mit Forschenden in China durchzuführen. In den letzten fünf, sechs Jahren wurde es allerdings sehr viel mühevoller. Zuletzt setzte nicht nur das Regime ideologisch begründete Limits, sondern vor allem die Corona-Pandemie.“ Mittlerweile, sagt Oidtmann, würden nur noch wenige westliche Wissenschaftler Eingang in China finden. „Es ist faktisch ein geschlossenes Land.“

Die chinesischen Politiker, glaubt der Sinologe, gingen davon aus, dass der Kontakt mit dem Westen eine verlorene Sache sei und dass sie dort nicht die Verbündeten finden, die sie zu finden hofften. Andererseits sei das chinesische Modell auch immer weniger attraktiv für europäische Staaten. Das Interesse bei chinesischen Regierungsvertretern, Brücken zu bauen und Studierende aufzunehmen, sei kaum mehr gegeben.

Die Forschungsbedingungen an der LMU sieht er dagegen sehr positiv und freut sich über „die fantastische Ausstattung“, die ihm von der Universität zur Verfügung gestellt wurde. „Eigentlich wollte ich mich für ein Alexander von Humboldt-Fellowship bewerben, aber nach meinem Besuch an der LMU, wo ich meine Forschung vorgestellt hatte, wurde ich gefragt, ob ich mich nicht für eine Professur interessiere“, so Oidtmann. Dass es geklappt hat, freut ihn sehr, zumal er die deutsche Universitätslandschaft im Vergleich etwa zum Vereinigten Königreich oder den USA auf einem guten Weg sieht. „Die Unis in Deutschland können ihr internationales Profil sehr schärfen, zudem gibt es gute und im Vergleich zu den USA gerechtere Zugangs- und Studienmöglichkeiten, aber vor allem auch gute Jobs. In Großbritannien hat der Brexit sehr dazu beigetragen, die Attraktivität der Unis zu mindern, und in den Vereinigten Staaten ist das System fragil und nicht mehr so attraktiv, wie es mal war – wenn man von Unis wie Harvard oder Yale mal absieht.“

Derzeit lernt Max Oidtmann Deutsch. Seine Kinder können es bereits, denn mangels Plätzen an der amerikanischen Schule in Doha, sind sie dort in die deutsche internationale Schule gegangen.

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