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Linien der Musik

23.07.2020

Irene Holzer ist Professorin für Musikwissenschaft.

Trotz ihres ganz und gar selbstverständlichen Gebrauchs in der Musik haben Noten etwas Faszinierendes: Kundige Musikerinnen und Musiker können vom Blatt die Melodie eines Liedes oder einer Komposition ablesen, sie brauchen nicht einmal ein Instrument, um nachzuvollziehen, wie sie klingt. Und mehr noch: Durch die schriftliche Fixierung bewahren Notensysteme die rasch verklingende Musik über Jahrhunderte.

„Im Mittelalter entstanden die ersten europäischen Notationssysteme im Kontext der kirchlichen Liturgie“, sagt die Musikwissenschaftlerin Irene Holzer, die seit April 2020 als Professorin für Musikwissenschaft an der LMU forscht und lehrt. Die Kirche sei der Kulturträger im Mittelalter gewesen und das Bedürfnis, klare Notationen für kirchliche Musik zu entwickeln, war groß – schließlich waren Choräle oder Psalmen eine Form des Gebets, das korrekte Wiedergabe und Intonation erforderte. Vor allem die Zeit der Karolinger im 9. Jahrhundert bildet hier einen wichtigen Bezugspunkt, denn in dieser Zeit entstanden zahlreiche Notensysteme.

Genau hier setzt die Arbeit von Irene Holzer an: Sie untersucht diese komplexen Systeme. Ihre Forschung hat einen starken paläografischen Ansatz, denn es gilt zunächst zu verstehen, welche Zeichensysteme den Notationen – beispielsweise den sogenannten Neumen oder der Mensuralnotation – zugrunde liegen und wie die Musik auf dieser Basis einerseits visualisiert und andererseits auch wiedergegeben werden kann.

„Wir sind mit einer Vielzahl von Notensystemen konfrontiert, die mit der Standardisierung in unserer modernen Welt nichts zu tun haben“, betont Holzer. „Das Lesen dieser unterschiedlichen Systeme ist bisweilen mit der Entzifferung von Hieroglyphen vergleichbar.“ Dies wiederum sei nur mit dem Einsatz von Transkriptionsquellen möglich. Holzer bedauert, dass Notationen lediglich aus dem Bereich der geistlichen Musik überliefert seien. Die Popularmusik des Mittelalters sei hingegen nur in Ausnahmefällen schriftlich erfasst worden und daher schwer rekonstruierbar. „In der geistlichen Musik konnte man eben nicht einfach singen, wie man wollte. Deswegen war ihre Verschriftlichung unabdingbar.“

Musik als Mittel der Kommunikation

Prof. Dr. Irene Holzer

Irene Holzer ist seit April 2020 Professorin für Musikwissenschaft an der LMU.

Notationssysteme sind lebendige Systeme, die immer wieder Änderungen erfahren haben, erklärt die aus dem Salzburgerland stammende Musikwissenschaftlerin. Erst ab etwa dem 15. Jahrhundert begann langsam eine Entwicklung hin zu einer Standardisierung, die allerdings im 20. Jahrhundert auch wieder hinterfragt wurde. „Zahlreiche zeitgenössische Komponisten kreierten individuelle Modelle nach der Maxime, die standardisierte Notation wieder flexibler zu gestalten.“

Irene Holzer hat in Salzburg und Newcastle, Vereinigtes Königreich, studiert und unter anderem an der UCLA Berkeley, USA, sowie in Basel in der Schweiz geforscht. Zuletzt war sie als Juniorprofessorin an der Universität Hamburg tätig. Zwar liegt das Hauptforschungsfeld der „musikwissenschaftlichen Mediävistin“, als die sie sich selbst sieht, im Mittelalter, doch interessieren sie auch größere Linien in der Musikgeschichte – insbesondere, wenn es um die Untersuchung von Musik als Medium der Kommunikation geht.

So hat sie etwa zum Beethovenzeitgenossen Anton Diabelli geforscht. Der österreichische Komponist und Musikverleger hat sich vor allem im 19. Jahrhundert der Aufgabe gewidmet, Kompositionen berühmter zeitgenössischer Komponisten gleichsam für den Hausgebrauch zu übersetzen. Dazu bearbeitete er entsprechende Partituren etwa für die Gitarre oder auch den heute vergessenen Czakan – eine in einen Gehstock eingebaute Flöte – und machte sie für musikalische Laien spielbar. „Musik galt als wichtiges gesellschaftliches Kommunikationsmittel und die Musikalität in den verschiedenen Kulturen war immer sehr groß“, sagt sie. Ein weiteres Phänomen, was damit einhergehe, sei auch die sukzessive Ausdifferenzierung der Musik in „populäre Musik“ und „Kunstmusik“ sowie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Musik und das Entstehen eines Gelehrtentums, das gerade der Popularmusik zumeist sehr reserviert gegenübergestanden habe. „Das spiegelt ehemals hegemoniale Strukturen und einen Anspruch auf Deutungshoheit wider.“

Wie Musik Vorstellungen des Vergangenen beeinflusst

Ein weiterer Fokus von Holzers Arbeit liegt auf der Musikgeschichtsschreibung seit den 1970er-Jahren. „Mir geht es darum, herauszuarbeiten, wie Geschichtskonzepte in zeitgenössischer Musik entwickelt und Fiktionen konstruiert werden“, erklärt die Wissenschaftlerin. Hierbei arbeitet sie über die 1970 gegründete Hamburger Folkrock- und Mittelalter-Musikband „Ougenweide“, die als Pionierin dieser Musikrichtung gilt. „Durch die Verwendung insbesondere von Modal- und Mollsystemen, die beim Hörer fremdartig wirken, kann ein Geschichtsbild von einer heilen Welt konstruiert werden, das als Ideal gegen eine als problematisch empfundene Gegenwart eingesetzt wird, obwohl dieses Geschichtsbild tatsächlich nichts mit der historischen Realität zu tun hat.“

Irene Holzer versteht sich als interdisziplinär arbeitende Forscherin, deren Themen Schnittstellen zur Historiografie und Soziologie haben. Besondere Chancen sieht sie in München an der LMU nicht nur in dieser Hinsicht, sondern auch im Bereich der Digitalisierung. „Im Feld der Zeichentheorie und Notation strebe ich eine stärkere Auseinandersetzung mit Digitalisierungsformaten an. Damit ist aber nicht das Einscannen von notierten Quellen gemeint. Ich möchte vielmehr herausfinden, wie solche Formate die Denkformen in Hinblick auf Visualisierung von Musik beeinflussen.“ Hier sieht sie starke Anknüpfungspunkt zur Informatik an der LMU sowie dem neuen Feld der Künstlichen Intelligenz.

Für die LMU hat sich Irene Holzer, die selbst Klavier, Flöte und Zither spielt, wegen des hervorragenden wissenschaftlichen Umfelds entschieden. Dass sie damit auch wieder näher in Richtung Heimat gerückt ist, ist dabei weniger von Bedeutung. „Die LMU ist eine hervorragende Universität, welche für meine Forschungsgebiete zahlreiche Schnittstellen zwischen Kunst, Kultur und modernen Technologien bietet“, betont sie. Einziger Wermutstropfen: Dass sie aufgrund der Beschränkungen während der Coronapandemie 2020 bisher noch keine Präsenzveranstaltungen halten konnte.

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