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„Man kann nicht von einem Erdbeben mit Ansage sprechen“

09.02.2023

Das Beben im türkisch-syrischen Grenzgebiet hat verheerende Zerstörungen verursacht. Der LMU-Geophysiker Heiner Igel erläutert im Interview, wie es zu einem so schweren Beben kommen konnte und was die Einschätzung künftiger Gefahren so schwierig macht.

Syrer auf den Trümmern eines durch ein Erdbeben zerstörten Hauses in Atarib

© IMAGO / ZUMA Wire / Juma Mohammad

Was ist in der Region am Montag geschehen?

Heiner Igel: Die Region, in der das Erbeben stattgefunden hat, liegt an den Grenzen sogenannter tektonischer Platten. Dort grenzen riesige Landmassen, die arabische und die anatolische Platte, aneinander, zusätzlich drückt auch die afrikanische Platte von Süden. Dadurch kommt es zu Verwerfungen, an denen Erdbeben stattfinden. Das ist dort im Allgemeinen nichts Ungewöhnliches. Das Ungewöhnliche ist eher, dass über einen sehr langen Zeitraum von bis zu 1000 Jahren kein derart großes Beben an der Stelle und in der Region stattgefunden hat.

Als wie gefährdet gilt dieses Gebiet?

Es ist eine Region, in der man Erdbeben erwartet, das ist gar keine Frage. Nur hat man in den letzten Jahrzehnten nur Erdbeben von Magnituden zwischen 6 und 7 gehabt und kein Erdbeben von knapp der Magnitude 8 wie das aktuelle. Zwischen den Magnituden 6 und 8 liegt ein Faktor 1.000 an Energie. Das heißt, die aktuellen Erdbeben haben im Vergleich zu den Erdbeben, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, ein Vielfaches an Energie in Form von seismischen Wellen abgestrahlt. Das zeigt sich nun in den ungeheuren Schäden, die ganze Wohnbezirke in Schutt und Asche gelegt haben.

Laut US-Erdbebenwarte hatte das Beben eine Stärke von 7,8. Was bedeutet dieser Wert?

Die 7,8 ist ein Wert auf der sogenannten Richterskala, die die Energie eines Erdbebens an seiner Quelle beschreibt. Je stärker das Erdbeben ist, desto größer ist die Bruchfläche, an der sich die Erde gegeneinander verschiebt. In der Türkei haben sich die Platten in horizontaler Richtung gegeneinander verschoben, das wird als „strike slip“ oder im Deutschen Blattverschiebung bezeichnet. Diese Bruchfläche hatte eine Größe von etwa 100-200 Kilometern mal 20-30 Kilometern. Und an der Verwerfungsfläche haben sich die beiden Seiten wahrscheinlich 3 bis 5 Meter aneinander vorbeigeschoben. Das bedeutet, dass die seismischen Wellen, die dann abgestrahlt werden, eine sehr große Amplitude haben. Die Auslenkung in der Region der Bruchfläche kann im Bereich Dutzender Zentimeter sein. Die Bewegungen sind relativ langsam, aber das Verheerende ist: Es sind genau diese Bewegungen, die auch in der Nähe der Resonanzfrequenzen der Gebäude liegen und die Bauten dann besonders leicht einstürzen lassen. Es ist einfach katastrophal für Gebäude, wenn Bewegungsamplituden und Schwingungsperioden dieser Art auf sie einwirken.

Die Gefahr in der Region ist ja selbst nach den verheerenden Beben nicht gebannt. Kann man Erdbeben vorhersagen?

Für Erdbeben gibt es nur eine sogenannte probabilistische Vorhersage, wie wir das etwa von der Regenvorhersage kennen. Bei der Regenvorhersage wird die Wahrscheinlichkeit angegeben, mit der es zum Beispiel in 48 Stunden an einem bestimmten Ort regnen wird. Diese ist dann auch mit großen Unsicherheiten behaftet. Ähnlich ist es mit Erdbeben. Wir wissen eigentlich relativ gut, wo Erdbeben stattfinden. Wir wissen eigentlich auch relativ gut, wie die größten Magnituden sind, die in einer bestimmten Region zu erwarten sind. Was wir allerdings gar nicht können, ist die genaue Zeit, die Magnitude und den genauen Ort eines Bebens vorherzusagen.

Was wir aber machen können, ist, die Deformation, die zum Spannungsaufbau von Verwerfungen führt, mithilfe von GPS-Beobachtungssatelliten über lange Zeit zu beobachten. Daraus kann man das Defizit berechnen, das durch die tektonischen Bewegungen entsteht. Es gibt verschiedene Regionen – und dazu gehört auch das türkisch-syrische Grenzgebiet –, wo man mehr oder weniger weiß, wenn ein Defizit von beispielsweise fünf bis acht Metern besteht, und man dann noch weiß, dass über einen langen Zeitraum kein Erdbeben stattgefunden hat, muss man auch mit Beben rechnen, die Magnituden von 7 bis 8 erreichen können.

Beobachtungsdaten zur Bewegung der Platten beispielsweise im türkisch-syrischen Grenzgebiet gibt es aber natürlich erst seit ein paar Jahrzehnten. Man weiß zwar, dass im 12. Jahrhundert zum Beispiel die Stadt Aleppo in Syrien zerstört wurde und dass es in dieser Region ein großes Erdbeben gegeben haben muss. Man weiß, dass in dieser Region Erdbeben zu erwarten sind. Aber man kann nicht von einem Erdbeben mit Ansage sprechen. Und: Die sehr hohe Magnitude und vor allem, dass es zwei sehr große Beben so kurz nacheinander gab, ist sehr ungewöhnlich. Das war wirklich nicht vorhersehbar.

Wie schätzen Sie die Gefahr für zukünftige Erdbeben in der Region oder im weiteren Umfeld ein?

Es wird in der Epizentralregion in den nächsten Wochen bis Monaten Nachbeben geben, die Magnituden erreichen, die wiederum zu Schäden führen können. Leider muss sich die Bevölkerung dort darauf einrichten und vorsichtig prüfen, welche Gebäude noch sicher sind.

Für Istanbul beispielsweise wird ja schon länger vor einem bevorstehenden großen Erdbeben gewarnt. Ist es denkbar, dass die Spannungen, die sich durch das aktuelle Erdbeben gelöst haben, nun an eine andere Stelle transferiert wurden und dort das Risiko steigt?

Tatsächlich gibt es einen solchen Spannungstransfer. Er kann Erdbeben in einiger Entfernung, die überfällig sind, wahrscheinlicher machen oder deren Auftreten verzögern. Das hängt vor allem von der Richtung zukünftiger Erdbebenherde vom vorigen Epizentrum ab. In der Tat wird für die Region Istanbul durch eine Verwerfung, die durch das Marmarameer führt, mit einem größeren Beben in den nächsten Jahrzehnten gerechnet. Wann es stattfindet, kann niemand vorhersagen.

Gibt es Vorsorgemaßnahmen, die man in gefährdeten Gebieten treffen kann?

Vorsorgemaßnahmen betreffen eine erdbebensichere Bauweise, wie man sie von Kalifornien oder auch von Japan kennt. In Kalifornien sind beispielsweise die Häuser im Silicon Valley in Holzfertigbauweise mit Holzrahmen errichtet und nicht mehr als ein oder zwei Stockwerke hoch. Wenn die zusammenfallen, hat man eine Überlebenschance. Große Gebäude, auch die hohen Wolkenkratzer, sind so ausgestattet, dass sie Schwingungen aufnehmen können. Erdbebensichere Bauweise ist also möglich. Leider gibt es in der jetzt betroffenen Region, das hat man an den Bildern gesehen, sehr viele Häuser mit multiplen Stockwerken in einer Bauweise, die solchen Schwingungen nicht standhält. Das ist das Tragische an diesem Beben, das zu einer solch großen Zahl von Opfern und zu solch großen Schäden geführt hat.

Heiner Igel ist Professor für Geophysik/Seismologie am Department für Geo- und Umweltwissenschaften. Zu seinen Schwerpunkten gehört die Erforschung der durch Erdbeben verursachten seismischen Wellen.

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