News

Mehr als nur ein Nothilfe-Programm

07.11.2022

Mit vielen Initiativen unterstützen verschiedene LMU-Einrichtungen Forschende aus der Ukraine. So entstehen interdisziplinäre Netzwerke, von denen beide Seiten profitieren.

Kärin Nickelsen erinnert sich an das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit und das Entsetzen, als Russlands Krieg gegen die Ukraine ausbrach. Dabei hat die Professorin für Wissenschaftsgeschichte der LMU ebenso wie viele Kolleginnen und Kollegen schon wenige Tage nach Kriegsausbruch begonnen, zu helfen. „Am Anfang erreichte das Historische Seminar eine große Welle an Bewerbungen für das Stipendienprogramm für Wissenschaftlerinnen aus der Ukraine, das wir auf Initiative von Dr. Iryna Klymenko ins Leben gerufen haben“, erklärt Kärin Nickelsen. „Wir wussten, wir konnten nicht alle aufnehmen. Etliche Bewerberinnen konnten wir allerdings an andere akademische Institutionen vermitteln."

Dr. Alina Gorlova, Nataliia Andriushchenko, Anna Umanska, Dr. Kateryna Yeremieieva (v. l. n. r.) im Lichthof der LMU

Dr. Alina Gorlova, Nataliia Andriushchenko, Anna Umanska und Dr. Kateryna Yeremieieva (v. l. n. r.) forschen aktuell an der LMU.

© Andres Chuquisengo / LMU

„Das Unterstützungsnetzwerk für geflüchtete ukrainische Wissenschaftlerinnen, das am Historischen Seminar mithilfe von Partnern wie der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission (DUHK) aufgebaut wurde, ist in der deutschen universitären Landschaft herausragend“, betont der LMU-Osteuropa-Historiker und Gründungsvorsitzende der DUHK, Professor Martin Schulze Wessel. „Insgesamt konnten für 14 Wissenschaftlerinnen in München neue Arbeitsmöglichkeiten geschaffen werden, etwa 40 wurden gezielt weitervermittelt. Zusätzlich zu den Spenden, vor allem von Mitgliedern des Historischen Seminars, wurden Mittel durch Antragstellungen bei der Volkswagen- und der Gerda Henkel Stiftung eingeworben.“

Das Programm wird durch viele Münchner Institutionen und Privatpersonen unterstützt. Einige Wohnmöglichkeiten wurden über den Freundeskreis der Jüdischen Geschichte und Kultur zur Verfügung gestellt, vermittelt durch die vor Kurzem verstorbene Jiddisch-Lektorin Dr. Evita Wiecki. Zudem half das Referat Internationale Angelegenheiten der LMU, auch mit der Übernahme zusätzlicher Stipendien, und auch das Center for Advanced Studies bot Unterstützung für geflüchtete Gäste.

Nicht nur in den Geschichtswissenschaften, auch in anderen Forschungsbereichen schlossen sich Institutionen zusammen, um zu helfen: Über das Life Science Network tauschten sich die Münchner Forschungskonsortien im Bereich der Lebenswissenschaften aus. Sonderforschungsbereiche und Transregios boten individuelle Unterstützung für Forschende in Not, von der Vermittlung von Kontakten, Praktika, Deutschkursen und Schulungen bis hin zur Übernahme von Stipendien für Prädocs, Promovierende und Postdocs.

Zudem haben mehrere Fakultäten, wie die Fakultät für Betriebswirtschaft oder die Juristische Fakultät, Stipendiatinnen und Stipendiaten aus der Ukraine aufgenommen. Zusätzlich bieten mehrere durch den Europäischen Forschungsrat geförderte Projekte Unterstützungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten an der LMU.

Interdisziplinärer Austausch, neue Anstöße

Die Rückmeldung auf die Initiativen ist durchweg positiv und das nicht nur seitens der ukrainischen Gäste. „Trotz der tragischen Situation gibt es auch positive Aspekte der Begegnung und des Austauschs“, sagt zum Beispiel Dr. Elizabeth Schroeder-Reiter. Sie koordiniert die Graduiertenprogramme der Sonderforschungsbereiche 1054 und 1064 und hat zusammen mit der Geschäftsführerin des Center for NanoScience, Dr. Susanne Hennig, für Vernetzung der Forschenden in den Lebenswissenschaften gesorgt. Das Historische Seminar betont, dass man eben nicht nur ein Nothilfe-Programm aufbauen wollte. „Es sind Gastwissenschaftlerinnen, denen wir eine Fortsetzung ihrer Arbeit ermöglichen“, sagt Kärin Nickelsen. So entstehen neue Forschungsnetzwerke. Die Lemberger Geschichtsprofessorin Natalia Kovalchuk sagt dazu: „Das Umfeld an der LMU ist in vielerlei Hinsicht ideal für die wissenschaftliche Arbeit. Zudem verfügt die Bayerische Staatsbibliothek über eine perfekte Sammlung von Literatur über Osteuropa. Und es gibt Kolleginnen und Kollegen, die an ähnlichen Themen arbeiten.“

So bot etwa das am Historischen Seminar organisierteUkrainian Research Seminar“ im Sommersemester den Gastwissenschaftlerinnen die Möglichkeit, sich auszutauschen und ihre Arbeit der Öffentlichkeit zu präsentieren. In den letzten Monaten wird verstärkt Wert auf die thematische Einbindung der Stipendiatinnen innerhalb der LMU und die Vermittlung an deutschlandweite Wissenschaftsinstitutionen gelegt.

Das ist umso drängender, als mit der Dauer der militärischen Auseinandersetzungen auch die dadurch erzwungenen Gastaufenthalte länger werden als gedacht. Bevor der Krieg in der Ukraine ausbrach, habe sie sich niemals vorstellen können, Flüchtling zu sein, sagt die Kiewer Professorin Tamara Hundorova. Wie viele ukrainische Wissenschaftlerinnen hatte sie keine Vorstellung, wie lange sie ihre Heimat nicht wiedersehen sollte. „Wir alle sind nicht davon ausgegangen, dass es so lange dauern würde“, sagt Natalia Kovalchuk.

Gastwissenschaftlerinnen geben Einblicke in ihre Arbeit an der LMU

Dr. Alina Gorlova

Dr. Alina Gorlova | © Stephan Höck / LMU

Alina Gorlova

„Die Pläne aller Ukrainer wurden durch diesen Krieg zunichte gemacht, und nun müssen wir uns an eine neue Realität weit weg von zu Hause gewöhnen“, sagt Alina Gorlova.

Die Chemikerin arbeitet im Labor von Professor Dieter Braun am Sonderforschungsbereich „Emergence of Life“ mit Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Astrophysik, Geowissenschaften, Chemie und Biochemie: „Besonders spannend ist die Interdisziplinarität meiner Arbeitsgruppe. Dabei kann ich viel lernen.“

Dr. Alina Gorlova war vor dem Krieg Forscherin am Institut für Organische Chemie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine und Projektmanagerin bei Enamine LTD.

Prof. Dr. Nataliia Kovalchuk

Prof. Dr. Natalia Kovalchuk | © LMU

Natalia Kovalchuk

„Ich bin dankbar für die enorme Unterstützung in Deutschland. Gerade für die Geisteswissenschaften ist das eine ungewöhnliche Situation, besonders für Forschende, die sich mit osteuropäischen Themen beschäftigen“, sagt Natalia Kovalchuk.

Ein zentrales Forschungsgebiet der Historikerin ist die panslawische Bewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Aktuell arbeitet sie am Historischen Seminar der LMU daran, „die Vorstellung der missionarischen Rolle Russlands im Rahmen des Panslawismus zu beleuchten“.

Prof. Dr. Natalia Kovalchuk ist Professorin für Geschichte und Direktorin des Artes-Liberales- Baccalaureate-Programms an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw.

Prof. Dr. Tamara Hundorova

Prof. Dr. Tamara Hundorova | © Stephan Höck / LMU

Tamara Hundorova

Literatur-Professorin Tamara Hundorova kam im März mit Mann und Enkelsohn nach München, wo sie bis September am Historischen Seminar und am Institut für Slavistik der LMU forschte: „Meine Zeit in München war sehr intensiv und auch produktiv. Ich habe viele Vorträge gehalten und an einem Projekt gearbeitet über die Idee Europas und wie sie von ukrainischen Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg wahrgenommen wurde.“

In ihrer Forschung interessiert sich Tamara Hundorova vor allem für die 1940er-Jahre. „Nun bin ich in einer ähnlichen Situation wie die Personen, über die ich forsche“, betont die Wissenschaftlerin.

Prof. Dr. Tamara Hundorova ist Leiterin des Departments für Literaturtheorie und Komparatistik der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine und Associate Research Fellow am Harvard Ukrainian Research Institute.

Anna-Umanska

Anna Umanska | © Serhii Udovyk

Anna Umanska

Als der Krieg in der Ukraine begann, befand sich Anna Umanska auf Reisen in Ungarn. Ihr Rückticket nach Kiew löste die Promotionsstudentin am 25. Februar nicht ein. Stattdessen begann sie nach Möglichkeiten zu suchen, ihre Doktorarbeit über die Kiewer Kultur Lige als Phänomen jüdischer Kultur- und Bildungsaktivitäten fortzusetzen.

Nach einem Rechercheaufenthalt in Bonn kam sie im Mai nach München. „Ich habe das Glück, hier mit dem Bayerischen Staatsarchiv und dem Archiv der Freien Ukrainischen Universität arbeiten zu können, wo es viele Materialien zu jüdischen Zeitschriften aus der frühen Sowjetzeit gibt“, erklärt die Doktorandin, die ein Stipendium des Historischen Seminars der LMU bekam.

Anna Umanska promoviert am M. S. Hrushevsky Institut für ukrainische Archäographie und Quellenkunde der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine.

Dr. Kateryna Yeremieieva

Dr. Kateryna Yeremieieva | © Stephan Höck / LMU

Kateryna Yeremieieva

Von den Münchner Bibliotheken und dem Austausch mit LMU-Kollegen profitiert auch die Arbeit von Humor- und Satireforscherin Kateryna Yeremieieva, die aus Charkiw nach München floh und ein Stipendium am Sonderforschungsbereich „Vigilanzkulturen“ erhielt.

Während ihrer Zeit an der LMU erforscht sie Ausprägungsformen von schwarzem Humor in Zeiten des Kriegs – damals wie heute: „Es gibt Gemeinsamkeiten, was den schwarzen Humor in Kriegszeiten betrifft: Humor verbreitet sich in Momenten tödlicher Gefahr extrem schnell, da er dazu beiträgt, sich gegenüber dem Feind überlegen zu fühlen und Stress sowie Angst zu reduzieren.”

Dr. Kateryna Yeremieieva ist Senior Lecturer an der Ukrainian State University of Railway Transport in Charkiw und Mitglied des Teaching Excellence Programme des British Council in der Ukraine.

Prof. Dr. Olena Pavlova

Prof. Dr. Olena Pavlova | © LMU

Olena Pavlova

Nach Kriegsausbruch flüchtete die Ethikprofessorin Olena Pavlova erst nach Polen. Im Juli kam sie ans Historische Seminar der LMU, wo sie mithilfe kulturgeschichtlicher Ansätze die Wahrnehmung und Erinnerung an den Krieg in der Ukraine erforschte.

„Bei meinem Umzug nach München halfen mir so viele Menschen”, erinnert sich Olena Pavlova und betont, wie sehr sie auch fachlich von ihrem Aufenthalt profitiert: „Für mich ist es sehr interessant zu erfahren, wie deutsche Universitäten organisiert sind, denn die kulturelle Praxis akademischen Lebens ist einer meiner Forschungsschwerpunkte.“

Prof. Dr. Olena Pavlova ist Professorin für Ethik, Ästhetik und Kulturwissenschaften an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew.

Nataliia Andriushchenko

Nataliia Andriushchenko | © Stephan Höck / LMU

Nataliia Andriushchenko

Nachdem sie kriegsbedingt ihren Job als Drehbuchautorin beim Lokalfernsehen von Dnipro verloren hatte, bekam Nataliia Andriushchenko im April kurzzeitig eine Anstellung am DOK.fest München. Seit einigen Monaten arbeitet die Journalistin, Filmemacherin und Medienforscherin im Rahmen des ERC-Projekts „T-MIGRANTS“ am Institut für Theaterwissenschaft der LMU.

Im Rahmen ihres Stipendiums widmet sich Nataliia Andriushchenko der Erforschung von Methoden und Techniken von Kreativdokus: „Ich bin sehr dankbar für die Möglichkeit, die Münchner Bibliotheken nutzen zu können. Ich habe eine Menge Material über kreative Dokumentarfilme aus Europa gefunden.”

Nataliia Andriushchenko ist Autorin und Produzentin von Dokumentarfilmen und Verfasserin von über 1.000 Artikeln über Kino, Film und Theater sowie von zwei Biografien bedeutender ukrainischer Akademiker.

Wonach suchen Sie?