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Näher an der Wahrheit

16.04.2020

LMU-Forscher Helmut Küchenhoff über ein neues Tool, das die Zahl der Corona-Neuinfektionen deutlich schneller vorhersagen kann, und den Boom von Grafikdarstellungen in den Medien

Gerade in den kommenden Wochen brauchen Politiker gute Statistiken und stabile Prognosen. Warum ist es gar nicht so einfach, etwa die konkrete Zahl von neuinfizierten Menschen in einer Region zu bestimmen? Küchenhoff: Es dauert immer ein bisschen, bis neu infizierte Personen tatsächlich gemeldet werden. Vom Zeitpunkt der tatsächlichen Infektion an vergehen meist einige Tage, bis jemand Symptome hat und vom Arzt untersucht und im Labor getestet wird. Und die Behörden brauchen dann oft noch Tage, bis die Fälle auch offiziell registriert sind. Bei Corona ist zudem die Dunkelziffer hoch. Viele Infizierte merken gar nicht, dass sie das Virus in sich tragen.

Sie bieten nun mit Nowcasting ein neues Vorhersage-Tool an. Was kann es? Küchenhoff: Wir können mit Hilfe eines statistischen Modells sozusagen die verzögerte Meldung herausrechnen. Aus vorhandenen Daten lässt sich berechnen, wie lange es vom Beginn der Symptome bis zur Meldung dauert. Diese Information nutzen wir für unser Modell und können so die tatsächlich neuen Fälle an einem Tag in Bayern deutlich besser abschätzen.

Wofür lässt sich das neue Tool einsetzen? Küchenhoff: Bislang schauen die Menschen nur auf die offiziellen Meldedaten, die etwa das Robert Koch-Institut (RKI) herausgibt. Diese Zahlen sind aber verzerrt, auch kurzfristig durch Feiertage oder speziell Ostern, wo es deutlich weniger Meldungen gab. Um die aktuelle Lage zu bewerten, die Wirksamkeit von Maßnahmen abzuschätzen und stabile Prognosen zu machen, brauchen wir aber eine möglichst genaue Zahl der neuen Fälle. Wir kommen mit Nowcasting der Wahrheit ein deutliches Stück näher. Außerdem können wir die in der Öffentlichkeit viel diskutierte Reproduktionszahl, also die Zahl der Personen, die ein Infizierter durchschnittlich ansteckt, im zeitlichen Verlauf schätzen.

Wer nutzt Ihre Daten? Küchenhoff: Wir haben das Tool gemeinsam mit dem Bayerischen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LGL) erarbeitet. Wir nutzen die Daten des LGL, umgekehrt verwendet das LGL unsere Analysen für interne Bewertungen, als Basis für Entscheidungen auch in der Politik. Wir wollen Nowcasting für Bayern nun auch öffentlich zugänglich machen, es steht ab sofort im Internet für alle zur Verfügung. Das RKI verwendet ein ähnliches Modell für Deutschland.

Wie hat sich die Zahl der Neuinfizierten etwa in Bayern in den vergangenen Tagen entwickelt? Küchenhoff: Man erkennt einen deutlichen Rückgang, von rund 1500 Neuinfizierten pro Tag Ende März auf rund 600 neue Fälle aktuell. Da sieht man, dass die Verhaltensänderungen wirken, denn bei einer Ausbreitung einer Epidemie würde man an sich deutlich steigende Zahlen erwarten. Selbst eine gleichbleibende Zahl wäre schon ein Erfolg.

Aktuell wird viel über eine Lockerung von Maßnahmen diskutiert. Viele Ideen und Forderungen basieren auf statistischen Auswertungen. Wie kann ein Laie erkennen, wie objektiv solche Statistiken sind? Küchenhoff: Das ist schwierig. Wichtig ist immer, dass die Quelle der Daten angegeben ist. Zentral sind auch wissenschaftliche Publikationen hinter Statistiken. Wir stellen beispielsweise einen technischen Bericht und später dann auch eine wissenschaftliche Veröffentlichung zu unserem Modell ins Netz.

Es gibt immer wieder Kritik an der Zuverlässigkeit von Meldedaten, etwa in Schweden oder auch in China. Wie wichtig ist die Qualität der Daten? Küchenhoff: Wir müssen uns auf die Daten der deutschen Behörden verlassen, in Bayern beziehen wir unsere Werte vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL). Wir machen natürlich Plausibilitätschecks und putzen unsere Daten, wie wir Statistiker sagen. Aber das Vertrauen in gute Quellen ist die Basis.

Worauf basiert die Qualität Ihres Vorhersage-Tools? Küchenhoff: Nowcasting stützt sich auf ein Tool von Michael Höhle von der Universität Stockholm, welches im Rahmen des EHEC-Ausbruchs entwickelt wurde. Das Modell haben wir an Corona angepasst, sozusagen die Besonderheiten des neuen Virus – beispielsweise die Unsicherheiten im tatsächlichen Krankheitsbeginn – in die Sprache der Algorithmen übersetzt.

Statistik boomt. Viele Medien veröffentlichen täglich neue Zahlen zu Infizierten und Toten. Online-Seiten wie die der Johns-Hopkins-Universität oder coronastats.co finden Beachtung. Was sagen Sie als Statistiker zu solchen Angeboten? Küchenhoff: Insbesondere Seiten wie die der Johns-Hopkins-Universität begrüße ich sehr. Sie bieten auch verschiedene grafische Darstellungsmöglichkeiten, sowohl normale wie logarithmische Skalen, die man jeweils selbst wählen kann. Zudem dokumentiert die Universität immer explizit die Qualität ihrer Daten und legt klar, aus welchen Ländern eher unsichere Werte vorliegen. Sie hat auch die Art der Datenerhebung in einem Lancet-Artikel publiziert. Diese Webseite ist eine gute Quelle. Leider werden in manchen Medien Grafiken gezeigt, die ich überhaupt nicht passend finde.

Haben Sie große Schwachstellen entdeckt? Küchenhoff: Ich finde es zum Beispiel völlig unpassend, wenn man in Deutschland nur immer die reine Anzahl der Fälle in Bundesländern auflistet. Da sind natürlich Länder wie Bayern, Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen immer weit vorne und das Saarland ist weit hinten. Dabei wird verschleiert, dass etwa das Saarland sehr stark betroffen ist. Man muss die Werte in Bezug zur Einwohnerzahl setzen.

Also Fälle pro 100.000 Einwohner listen. Küchenhoff: Genau. Zudem ist bei Epidemien, wo sich Viren im Prinzip exponentiell verbreiten, eine logarithmische Darstellung extrem wichtig. Infektionsverläufe sieht man immer besser auf solchen Skalen, denn diese spiegeln Zunahmen und generell Veränderungen am besten wieder. Eine kumulative Kurve würde einfach immer steil nach oben gehen und man erkennt keine feineren Strukturen wie eine beginnende Abnahme der Ansteckungszahlen.

Sie selbst haben mit Studenten eine Corona-Statistik-Plattform aufgebaut. Was macht Ihre Seite aus? Küchenhoff: Wir haben etwa die Todesfälle in den einzelnen Ländern weltweit verglichen, nicht absolut, sondern auf die Einwohnerzahl umgerechnet. Da sieht man etwa, dass die Schweiz stark betroffen ist. Zudem haben wir für Deutschland den Verlauf der Zahlen für einzelne Bundesländer aufbereitet. Hier kann man gut sehen, dass etwa die östlichen Bundesländer weit weniger betroffen sind als Bayern, Baden-Württemberg und das Saarland. Das kann durchaus Basis dafür sein, für die jeweiligen Länder unterschiedliche Lockerungen zu ermöglichen. Unser Nowcasting-Tool ist ein gutes Instrument, den Effekt einer Exit-Strategie zeitnah in Bayern zu beobachten. Da sind wir deutlich schneller als die einfachen Meldezahlen.

Helmut Küchenhoff ist Professor am Institut für Statistik der LMU und leitet das Statistische Beratungslabor (StaBLab). Mit einem 10-köpfigen Team hat er die aktuelle Corona-Statistikseite corona.stat.uni-muenchen.de entwickelt.

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