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Neue Erkenntnisse zum Hitler-Ludendorff-Putsch

10.11.2023

Eine neue Edition schildert detailliert die Ereignisse vor und nach dem Umsturzversuch 1923. Basis sind bis dato unveröffentlichte Dokumente aus dem Nachlass Gustav von Kahrs, der den Putsch niederschlagen ließ.

Liebe Kinder! In aller Eile will ich Euch […] aus der Festung, in der ich mich zur Zeit befinde, herzliche Grüße senden. Die Landespolizei hat das Regierungsgebäude, in dem sich das Generalstaatskommissariat befindet, in den Verteidigungszustand versetzt um etwaige Aushebungsversuche hintanzuhalten. Ein merkwürdiges Schicksal. Während der Revolution 1918 und während der Rätezeit 1919 stand das Regierungsgebäude frei und offen da. Es erlebte wüste Demonstrationen von Links. Heute muß das Gebäude gegen Angriffe von Rechts geschützt werden, obwohl es eine ganz rechts eingestellte Regierungsgewalt birgt. […]

Das schrieb der rechtskonservative Verwaltungsbeamte und Politiker Gustav von Kahr am 19. November 1923 an Tochter und Schwiegersohn. Als Generalstaatskommissar Bayerns mit quasi-diktatorischen Vollmachten hatte er zehn Tage zuvor den Putschversuch Hitlers und Ludendorffs niederschlagen lassen und sich damit den Zorn der völkisch-nationalistischen Kreise zugezogen. Schließlich hatte von Kahr noch zu Beginn des Umsturzversuchs zugestimmt, Hitler zu unterstützen – allerdings nur auf dessen Druck hin. Denn der NS-Führer hatte eine Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller, bei der von Kahr eine Rede hielt, am 8. November von seiner SA stürmen lassen und den drei anwesenden Vertretern der Staatsmacht – neben von Kahr noch Hans von Seißer, Chef der Landespolizei, und Otto von Lossow, Kommandeur der Reichswehr in Bayern – die Unterstützungszusage mit der Waffe in der Hand abgefordert.

Historisches Schwarz-Weiß-Bild von Generalstaatskommissar Gustav von Kahr hinter einem schweren Holzschreibtisch. Er blickt erwartungsvoll in die Kamera, seine Hände liegen auf dem Tisch auf einem Stoß Papiere. In der reechten Hand hält er eine Stift.

Gustav von Kahr am Schreibtisch, Januar 1923.

© picture alliance ullstein bild Philipp Kester

Chronologie in 15-Minuten-Schritten

Was vor und nach dem Putsch bis zum gewaltsamen Tod von Kahrs 1934 im KZ Dachau geschah, zeigt die jüngst erschienene Edition Generalstaatskommissar Gustav von Kahr und der Hitler-Ludendorff-Putsch anhand bislang unveröffentlichter Originaldokumente aus seiner Feder. Bearbeiter ist Dr. Matthias Bischel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bayerische Geschichte der LMU. Er hat u.a. anhand der Zeugnisse aus dem Privatnachlass von Kahrs detailliert die Ereignisse nachgezeichnet. „Ziel war es, alle einschlägigen Dokumente von ihm selbst und seinem unmittelbaren Umfeld chronologisch strukturiert zu edieren, um nachvollziehen zu können, wie sich die Darstellung des Putsches über die Zeit entwickelt hat“, sagt Bischel. Dabei hat der Forscher die Schriftstücke von Kahrs sorgfältig mit Quellen aus anderen Überlieferungen kontrastiert, um ihre Aussagekraft zu überprüfen.

So stellt der Historiker etwa in einer tabellarischen Chronologie die Ereignisse vom Beginn der Bürgerbräu-Versammlung am Abend des 8. November bis zum Befehl an Reichswehr und Landespolizei zur Niederschlagung des Putsches am folgenden Morgen in 15-Minuten-Schritten dar. Dabei dokumentiert eine Spalte die Handlungen von Kahrs selbst, die andere die zentralen Ereignisse in seiner Umgebung. „In Anbetracht dessen wird die Version von Kahrs tatsächlich im Wesentlichen bestätigt“, sagt Bischel.

Sieben Kisten persönlicher Nachlass

Insgesamt sieben Kisten mit Dokumenten, die das Institut von den Erben des ehemaligen Regierungspräsidenten Oberbayerns, bayerischen Ministerpräsidenten und Generalstaatskommissars erhalten hat, standen Bischel für seine Forschung zur Verfügung. Sie halten nicht nur die Geschehnisse rund um den Putschversuch fest. Zudem dokumentieren sie auch das Agieren von Kahrs im anschließenden Gerichtsprozess und zeigen vor allem, dass seine Beschreibung der Ereignisse bis zu seinem Tod im Wesentlichen unverändert geblieben ist.

Es haben also nicht, wie man annehmen könnte, Erinnerungsmodifikationen stattgefunden, die das Geschehen in anderes Licht rücken. „Bereits am 4. Dezember 1923 musste von Kahr als Zeuge vor der Staatsanwaltschaft aussagen“, erläutert Bischel. „Auch deshalb fertigte er seine Version der Ereignisse noch vor den Aussagen der Putschisten an und musste dann um seiner Glaubwürdigkeit willen natürlich dabei bleiben. Dies umso mehr, als ganze Passagen aus seiner Darstellung nicht nur in der Anklageschrift, sondern auch in den Medien – wohl auf Kahrs Einfluss hin – mehrfach reproduziert wurden.“

Titelblatt der Morgenausgabe des SPD-Organs „Vorwärts“. Hitler wird erst in der Unterzeile erwähnt.

© picture alliance / akg-images

Das Selbstbild als Staatsmann

Standen in den bisherigen Abhandlungen zum Putschversuch von 1923 vor allem Hitler und Ludendorff im Fokus, so wird mit der Arbeit Bischels das Licht auf die Vertreter des Staats, insbesondere natürlich auf Gustav von Kahr, gelenkt. Schon in seiner Dissertation hat sich der Historiker mit der Biografie dieses Staatsmannes befasst, der das von den Nationalsozialisten nach dem Putsch vergebene Stigma des Verräters nicht mehr losgeworden ist. Nach dem jetzt erarbeiteten Kenntnisstand deuten jedoch zahlreiche Hinweise darauf hin, dass Kahr den Putschversuch von Anfang an bekämpfen wollte – das ist Bischels Fazit aus seiner Forschung. Von Kahrs Ziel war stattdessen die zumindest legal erscheinende Bildung eines „Reichsdirektoriums“ in Berlin, d.h. einer Reichsregierung unter Ausschaltung des Parlaments. Zu diesem Zweck hatte er schon Kontakte mit anderen rechtsgerichteten Größen in Deutschland geknüpft.

Von Kahr, so Bischel, sei nie ein Politiker im heutigen Sinn des Wortes gewesen. Pro forma zwar Mitglied der Bayerischen Volkspartei, habe er stets das Selbstverständnis eines überparteilich-„neutral“ agierenden Staatsmannes gepflegt. Wie sehr er dieses Bild offenbar auch auf andere politische Entscheidungsträger übertrug und wie sehr er damit das Wesen Hitlers unterschätzte, zeigte sich auch in einem Brief, den er dem „Herrn Reichskanzler“ am 10. April 1934 von seinem Rückzugsort Unterwössen im Chiemgau aus schrieb. Er war hier bereits mehrfach in Form von Plakaten als Verräter diffamiert worden. Sogar Feuerwerkskörper wurden in seinem Vorgarten gezündet.

In dem Brief bittet er Hitler, darauf hinzuwirken, dass diese Übergriffe ausbleiben: […] bin ich fest überzeugt, daß Sie, sehr geehrter Herr Reichskanzler, jene Vorfälle in Unterwössen keineswegs billigen und daß Sie Veranlassung nehmen werden, solche unwürdigen Machenschaften, die darauf abzielen, mich obdachlos und gewissermaßen vogelfrei zu machen, abzustellen.“

Eine Antwort erhielt er nie. Gustav von Kahr wurde elf Wochen später im KZ Dachau erschossen.

Matthias Bischel
Generalstaatskommissar Gustav von Kahr und der Hitler-Ludendorff-Putsch. Dokumente zu den Ereignissen am 8./9. November 1923
Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 178, 2023 Verlag C.H. Beck

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