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Nine Eleven: „Amerika verstand, dass es verletzlich war“

06.09.2021

LMU-Amerikanist Professor Christof Mauch war am 11. September 2001 in Washington D.C. Im Interview spricht er über persönliche Erlebnisse und wie eine Gesellschaft nach den Anschlägen weitermacht.

Professor Christof Mauch | © Martin Hangen

Herr Professor Mauch, wo waren Sie, als Sie am 11. September 2001 von den Anschlägen erfahren haben?

Professor Christof Mauch: Am 11. September war ich in Downtown Washington in meinem Arbeitszimmer am Deutschen Historischen Institut. Wir hatten eine Arbeitsbesprechung mit einem Dutzend Kolleginnen und Kollegen. Irgendwann, fast am Anfang der Sitzung, platzte eine Office-Managerin in mein Büro und meldete erschrocken, ein Flugzeug sei in einen der Türme des World Trade Center geflogen. Nach einiger Zeit kam eine zweite Kollegin und berichtete von einem zweiten Unfall; ein weiterer Turm war getroffen. Wir blieben – im Rückblick klingt das schwer verständlich – anfangs noch relativ ruhig. Wir waren sicher irritiert, haben die Sitzung aber trotzdem fortgesetzt. New York ist ein paar hundert Meilen von Washington entfernt und an einen Terroranschlag dachte anfangs keiner von uns. Die Stimmung drehte dann plötzlich, als es hieß, ein drittes Flugzeug habe das Pentagon attackiert. Das Pentagon war schließlich nur wenige Meilen von unserem Institut entfernt.

Wie verlief der weitere Tag in Washington?

Ich habe schnell meine Familie angerufen: meine Frau im Holocaust Museum, unser Aupair und die Kinder zuhause, danach die Botschaft und das Goethe-Institut. Eine Mitarbeiterin der Botschaft berichtete, man könne von der Botschaft aus Rauch über dem Pentagon sehen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts habe ich für den Rest des Tages frei gegeben. Ich musste mich am Institut dafür entschuldigen, dass ich nicht schneller die Tragweite der Attacken erkannt hatte. Wir hatten aber damals am Institut keinen Fernseher und ohne die Fernsehbilder hatten die Nachrichten nicht die Eindringlichkeit und den Schrecken des Visuellen, der uns am Ende in ständigen Wiederholungen vor Augen geführt wurde.

Übrigens, was in keinem Geschichtsbuch steht: von diesem Tag an lief in allen Ministerien in Washington ein Fernseher. Und darauf immer: Fox News. George W. Bush ordnete damals an, dass der konservative Sender ständig laufen solle. Man konnte kein Department mehr besuchen, ohne an Fox-Bildschirmen vorbeizugehen. Das wurde erst unter Obama geändert.

Im Zusammenhang mit dem 11. September fällt oft der Begriff des „nationalen Traumas“. Teilen Sie diese Ansicht?

Ja. Der 11. September ist ein echtes Lehrbuchtrauma und hat das Selbstbewusstsein der USA erschüttert. In mancher Hinsicht mehr als vergleichbare Ereignisse. Nationale Traumen hat es in den USA immer wieder gegeben. Im Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert hatten sich Amerikanerinnen und Amerikaner gegenseitig bekämpft und das Land von innen her zerstört. 100 Jahre später kam Vietnam: Die Amerikaner konnten nicht begreifen, dass man trotz vieler Verluste und militärischer Überlegenheit den Krieg verloren hat.

Inwiefern war der 11. September anders?

Am 11. September wurden die USA getroffen. Vorher war das nur ein einziges Mal geschehen, 1941 in Pearl Harbor. Aber damals hatte ein mächtiger Gegner angegriffen: Japan. Einer, gegen den man mit militärischen Mitteln zurückschlagen konnte. Am 11. September kannten die USA den Gegner nicht. Sie konnten nicht zurückbomben, keinen traditionellen Krieg erklären. Was für das kollektive Erfahren besonders schlimm war: der Gegner hatte die USA fast ohne Ressourcen – mit Waffen, die keine waren – tief getroffen und das Selbstverständnis verletzt. Die Terroristen vom 11. September kamen aus einem der ärmsten Länder der Welt. Die amerikanische Bevölkerung hatte diese Menschen nicht auf dem Radar, aber die Attentäter hatten Amerika auf dem Radar. In gewisser Weise waren sie globalisierter als die USA. Sie hatten die stolzeste Wirtschaftsmacht auf dem Globus an symbolischen Orten – dem Weltwirtschaftszentrum und dem US-Verteidigungsministerium – getroffen.

Wie haben die Ereignisse die amerikanische Gesellschaft verändert?

Das ist eine interessante und eine schwierige Frage. Solche Veränderungen finden über lange Zeiträume statt. Die erste Veränderung lag darin, dass man in den USA verstand, dass man verletzlich war. Es gab so etwas wie kollektive Angst. Man war orientierungslos. Gleichzeitig kam ein verstärktes Gemeinschaftsbewusstsein auf – Patriotismus. Überall wehten kleine US-Flaggen, in den Vorgärten zum Beispiel und an den Autos. Der nationale Zusammenhalt war spürbar. Die Ereignisse führten auch zu einer kurzzeitigen Versöhnung über Parteigrenzen hinweg. Nach dem verlorenen Vietnamkrieg hatten die Parteien einander beschuldigt und heftig attackiert. Jetzt trat das gegenteilige Phänomen ein. Es gab nur noch ein Amerika, keine Lager mehr. George W. Bush war plötzlich beliebt. Jedenfalls traute sich keiner mehr, ihn bloßzustellen oder zu kritisieren. Das hielt zumindest eine Weile an.

Auch die ökonomischen Folgen sind nicht zu vernachlässigen, ich glaube, sie liegen Untersuchungen zufolge in der Größenordnung von 800 oder 900 Milliarden Dollar. Freunde von mir verloren beispielsweise ihr Unternehmen, das Kataloge für Reisebüros gedruckt hatte. Niemand reiste mehr, die Rechnungen blieben unbezahlt. Sie wurden dann selbst von Millionären zu Sozialfällen. Sie zogen in ein Blechhaus, in einen anderen Teil der USA, wo niemand sie kannte. Der Familienvater fuhr Pizza aus.

Ehemaliger Polizist trauert vor dem National September 11 Memorial

Ein ehemaliger Polizist betrauert am National September 11 Memorial einen Angehörigen, der als Feuerwehrmann bei dem Einsturz des Südturms umkam.

© IMAGO / UPI Photo

Ist das Vermächtnis der Anschläge auch heute, zwanzig Jahre später, noch spürbar?

Die kollektive Angst von damals ist auch heute noch spürbar und sichtbar. Nach dem 11. September wurden überall neue Sicherheitsbeschränkungen eingeführt. An den Flughäfen wurde das Mitführen von Flüssigkeiten verboten, später kamen Körperscanner. Flugzeuge waren mit einem Mal nicht mehr nur Verkehrsmittel, sondern potenzielle Massenvernichtungswaffen. Viele von den Sicherheitsregeln, die nach dem 11. September eingeführt wurden, gelten heute noch an Flughäfen.

Ich glaube, zwanzig Jahre nach dem 11. September ist das Land in der Erinnerung an diesen tragischen Tag noch immer vereint. Aber es ist gespalten in der Frage, welche politischen Lehren und Konsequenzen aus den Ereignissen zu ziehen sind. Der 11. September wird von linken und rechten Amerikanerinnen und Amerikanern unterschiedlich verstanden. Er wird zum Beispiel als Argument benutzt, um Einreisebeschränkungen zu verstärken. Bei Trumps Mauerbau spielte er eine Rolle und bei der Rücknahme von Freiheitsrechten generell.

Schon kurz nach den Anschlägen wurden Grundrechte mit dem Patriot Act eingeschränkt. War so etwas zuvor überhaupt denkbar?

Die USA werden oft als Leuchtturm der Freiheit gesehen. In Wirklichkeit hat es schon seit über 200 Jahren immer wieder grundsätzliche Einschränkungen von Grundrechten gegeben. Die Alien and Sedition Acts, vier Gesetze aus dem Jahr 1798, von denen eines noch heute Gültigkeit hat, sind ein Beispiel dafür. Sie sollten die Verhaftung und Abschiebung von Migranten erleichtern. Damals schürten einflussreiche politische Kreise das Misstrauen gegen Franzosen und Iren, denen niederträchtige und aufrührerische Ziele und Gedanken vorgeworfen wurden. Im Ersten Weltkrieg wurden Grundrechte, auch für Deutschamerikaner, massiv eingeschränkt, im Zweiten Weltkrieg wurden Japaner im amerikanischen Westen interniert.

War der Patriot Act also gar nichts Besonderes?

Der US Patriot Act ermöglichte mit einem Mal Einblicke in Bankkonten und andere Finanzdaten, sogar Hausdurchsuchungen waren erlaubt, ohne dass die Betroffenen informiert werden mussten. Neu war, dass die gesamte amerikanische Bevölkerung zum Ziel werden konnte. Fast alle Überwachungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen des Patriot Act hatten aber schon lange vor dem 11. September auf einer Wunschliste von Kongressabgeordneten gestanden. Sechs Wochen nach den Anschlägen ließ sich das Gesetzespaket fast widerstandslos durchsetzen. Bush machte Druck und die wenigsten Abgeordneten dürften das Gesetz gelesen oder gar überdacht haben. Erst im Juni 2015 wurde der Patriot Act durch den sogenannten Freedom Act ersetzt, der dann nur noch gezielte, gerichtlich verfügte Lauschangriffe erlaubte.

Mit welchen Mitteln versuchen die USA, das nationale Trauma aufzuarbeiten?

Vor etwa zehn Jahren entstand auf dem Gelände des zerstörten World Trade Center eine Gedenkstätte, später dann ein unterirdisches Memorial Museum, das Zehntausende Bilder und Artefakte und Videos sammelt. Das Museum kann vor Ort und digital besucht werden. Die virtuelle Sammlung von Gemälden und Gedichten, von Skulpturen und Fotografien und Musik ist einzigartig. Amateurkünstlerinnen und -künstler und Profis, aus allen Altersgruppen, aus allen Teilen der USA, haben Kunstwerke beigesteuert. Ob dies zur nationalen Heilung beiträgt? Ich glaube, dass Künstlerinnen und Künstler sensible Beobachter sind. Ich glaube auch, dass Kunst gegen Vergessen hilft. Die Überwindung von nationalen Traumata ist aber kompliziert.

Also ein anhaltender Prozess?

Absolut. Noch immer, nach 150 Jahren, ist schließlich in den USA das Trauma des Bürgerkriegs nicht voll verarbeitet. Das zeigen die Auseinandersetzungen um Denkmäler von Südstaatengenerälen. Heilung ist auch nach dem 11. September noch lang nicht in Sicht. Das Ereignis wird von politisch rechtsstehenden Medien wie Fox immer wieder zitiert, um eine harte Haltung zum Beispiel gegenüber dem Islam zu begründen. Dabei gehören dem Islam mehr als eine Milliarde Menschen weltweit an und etwa dreieinhalb Millionen Muslims in den USA. Diese Feindbilder und die Reduktion von Kultur und Politik auf eine Kategorie wie Rasse, Religion oder geographische Herkunft greifen zu kurz und halten die nationale Wunde offen.

Gibt es Lehren, die aus dem Umgang der USA mit dem 11. September gezogen werden können?

Nach dem 11. September war ständig von „freedom“ die Rede. „Freedom itself is under attack”, hat Präsident Bush ein paar Tage nach den Anschlägen erklärt. Die Feinde Amerikas hat er als Feinde der Freiheit bezeichnet. Den Krieg gegen Afghanistan nannten die Amerikaner „Enduring Freedom“ und der Krieg gegen den Irak hieß „Operation Iraqi Freedom“, während man gleichzeitig Freiheitsrechte in Guantánamo mit Füßen trat. Wir haben den Anspruch auf Freiheit und Toleranz nicht gepachtet. Wie weit man gegangen ist, um den „war on terror“ im Inland und Ausland zu führen, hat gezeigt, dass im Falle von Krisen auch die eigene Demokratie, ganz plötzlich, in Gefahr geraten kann.

Christof Mauch ist Lehrstuhlinhaber für Amerikanische Kulturgeschichte und seit 2009 Direktor des Rachel Carson Center for Environment and Society. Von 1999 bis 2007 war er Direktor des German Historical Institute in Washington, D.C.

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