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Schritt für Schritt gesund

29.08.2018

Die Ethikerin Verina Wild forscht darüber, wie Digitalisierung und Globalisierung das Gesundheitssystem verändern und welche ethischen Implikationen das für den Einzelnen und für die Gesellschaft hat.

Es gibt im Jahr 2018 viele Gründe, 10.000 Schritte am Tag zu gehen, die nichts mehr damit zu tun haben, irgendwohin kommen zu wollen. Stattdessen dient das Laufen der Bewegung an sich. Elektronische Armbänder zählen die Schritte und loben den Träger, sobald die vorgegebene Zielmarke erreicht ist. Und mithilfe von Fitness-Anwendungen auf Smartphones lässt sich unter anderem das Tagespensum mit dem anderer vergleichen. Bewegung gilt heute als „Wundermittel“, wie die Zeit titelte, als unverzichtbar für ein gesundes Leben. Die Zahl der Gesundheits-Apps für das Smartphone geht weltweit in die Hunderttausende. Manche Krankenkassen belohnen bereits Mitglieder: Wer fleißig läuft und das digital nachweisen kann, erhält eine Geldprämie. Solche Bonusprogramme sollen nicht nur dazu motivieren, in Bewegung zu bleiben, sondern auch an Vorsorgeuntersuchungen teilzunehmen oder rechtzeitig zum Impfen zu gehen. Im Schnitt zahlen die gesetzlichen Krankenkassen dafür jährlich 141 Euro pro volljährigem Versicherten aus. Prävention lohnt sich, so die Botschaft.

Mit der modernen Medizin rückte die Versorgung akuter Erkrankungen in den Mittelpunkt. Seit einigen Jahren gebe es jedoch vermehrt eine Verschiebung hin zur Prävention vor allem chronischer Erkrankungen wie Diabetes und Herzkreislauferkrankungen, konstatiert Verina Wild vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der LMU. Seit Juli 2015 ist das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention in Kraft. Mehr als 500 Millionen Euro sollen die Kranken- und Pflegekassen dafür nun jährlich investieren.

Verina Wild analysiert die ethischen Dimensionen dieser Veränderungen. Dabei gehe es auch um die Frage, bei wem die Verantwortung für Gesundheit liegt – beim Staat, bei Institutionen wie Schulen, beim Gesundheitspersonal oder bei der einzelnen Person? „Die Antwort darauf hat Auswirkungen auf das Krankenkassensystem. Davon wird wahrscheinlich zunehmend abhängen, wieviel die Solidargemeinschaft zahlt und welchen Anteil der Kosten der Einzelne trägt.“

Ein Wendepunkt im Denken über den Sozialstaat Die neuen Bonusprogramme der Krankenkassen betonen die Verantwortung, die jeder selbst für seine eigene Gesundheit trägt. Sie fügen sich damit in eine Politik des „Förderns und Forderns“, die mit der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Jahr 2003 unter dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder im Sozialgesetzbuch festgeschrieben wurde. Sie markiert einen Wendepunkt im Denken über den Sozialstaat, der sich zunehmend aus seiner fürsorgenden Rolle zurückzieht. Viele scheinen sich bereits die Vorstellung zueigen gemacht haben, dass, wer Rückenschmerzen hat oder übergewichtig ist, sich eben einfach nicht genug bewegt habe. Für die Ethikerin ist mit der Frage nach Eigenverantwortung für die Gesundheit jedoch auch jene nach Gerechtigkeit verbunden. „Die Forschung zeigt ganz klar einen Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und den Erkrankungsrisiken.“ Egal ob Adipositas oder Diabetes – das Risiko, daran zu erkranken, ist umso höher, je ungünstiger die Lebensbedingungen sind. „Wenn aber die Erkrankungsrisiken so eng mit dem sozioökonomischen Status verknüpft ist, stellt sich die Frage, wie sehr man den Einzelnen dafür verantwortlich machen kann – auch bei Übergewicht und Suchterkrankungen.“ So rücken viele weitere Faktoren in den Blick wie die Arbeitsbedingungen oder die Folgen von Arbeitslosigkeit, Bildungschancen, der Lebensraum oder die Kosten gesunder Ernährung.

Verina Wild ist eine der wenigen Ethikerinnen im deutschsprachigen Raum, die sich diesen Fragen nicht nur mit Blick auf das Individuum, sondern bezogen auf die Gesundheit der gesamten Bevölkerung stellen – Public-Health-Ethik nennt sich das Fachgebiet, das im englischsprachigen Raum bereits eine längere Tradition hat. Wild, die selbst auch als Ärztin tätig war, sucht dabei den interdisziplinären Austausch: „Die Frage, was wir in der Gesundheit der Bevölkerung als ethisch angemessen erachten, ist eng verbunden mit Fragen der Gerechtigkeit, wie sie in der politischen Philosophie diskutiert werden. Sie knüpft aber auch an die Sozialepidemiologie an, in der populationsbezogene Daten erhoben und bewertet werden müssen.“

Auch die Globalisierung hat Folgen für die nationalen Gesundheitssysteme, die neue ethische Fragen aufwerfen. Unter dem Titel „Alt werden im Paradies“, setzte sich Verina Wild zusammen mit Christine Bally-Zenger mit der Migration von Langzeit-Pflegebedürften auseinander. Wie ist es zu beurteilen, wenn deutsche Senioren in Pflegeheimen in Thailand betreut werden, weil dort die Kosten niedriger sind? Die ethischen Dimensionen reichen von möglichen Belastungen der familiären Beziehungen bis hin zu global-ethischen Problemen. So kann es in den Zielländern Ungleichheiten verschärfen, wenn die dortigen gut ausgebildeten Fachkräfte zunehmend für die Versorgung ausländischer Pflege- oder Medizintouristen arbeiten und in der Versorgung der heimischen Bevölkerung fehlen. Aber auch im Heimatland stellt sich die Frage, ob es fair ist, wenn die finanziellen Möglichkeiten den Ausschlag dafür geben, als Pflegefall ins Ausland zu gehen. Wäre es nicht die Pflicht des Staates, allen Bürgern, unabhängig von ihren finanziellen Mitteln, zu ermöglichen, zuhause gepflegt zu werden?

Die Tuberkulose und ihr globaler sozialer Gradient „Wir müssen in unseren Überlegungen zu Public Health die globale Dimension heute immer mitdenken“, sagt Verina Wild. Die Ethikerin berät auch die Weltgesundheitsorganisation unter anderem zu Tuberkulose, einer Krankheit, die ein strenges Behandlungsregime, mitunter gar vorübergehende Isolation, erfordert und damit in die Freiheit des Erkrankten eingreifen kann. Auch bei Tuberkulose zeigt sich ein globaler sozialer Gradient: Je weniger privilegiert die Lebensbedingungen, desto häufiger treten schwer zu behandelnde Formen der Erkrankung auf.

Auch zu Fragen der Migration, Gesundheit und Ethik ist Verina Wild bei der WHO als Expertin gefragt. So hat sie in einer Publikation jüngst beispielhaft eine Migrationsroute aus einem Land südlich der Sahara nachgezeichnet und analysiert, in welchen Momenten dabei grundlegende ethische Prinzipien verletzt werden, wie sie etwa in internationalen Deklarationen festlegt sind. „Migration wird nicht auf einmal aufhören. Globale Gerechtigkeitstheorien helfen uns zu bestimmen, welche Verantwortung die High-Income-Countries für Menschen in ärmeren Ländern tragen. Nur wenn wir uns darauf einlassen, darüber nachzudenken, werden sich auch Lösungen für solche komplexen globalen Herausforderungen finden lassen.“

Ihr neuestes Projekt an der LMU führt Verina Wild unter anderem mit Ökonomen und Informatikern zusammen. Im Rahmen ihrer BMBF-Forschungsgruppe „META“ untersucht sie die vielschichtigen ethischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Folgen mobiler Gesundheitstechnologien. „Mit der Digitalisierung wird Gesundheit zunehmend außerhalb des Medizinsystems verhandelt, gefördert und angeboten.“ Es ist nicht mehr nur der Arzt, der im Patientengespräch Empfehlungen für ein gesünderes Verhalten gibt, etwa zu mehr Bewegung rät. Inzwischen mischen auch jene privaten IT-Firmen mit, die Gesundheits-Apps und Fitness-Tracker entwickeln. „Die damit verbundenen ethischen Dimensionen haben wir noch lange nicht ausbuchstabiert“, sagt Wild. „Der hippokratische Eid allein hilft hier nicht mehr weiter.“ Vielmehr müsse man nun unter anderem verstehen, welche Werte die Entwickler antreiben und mit den Vorstellungen der Anwender und auch der Politik vergleichen. Auch Fragen des Datenschutzes schließen sich an. Ein Thema, mit dem sich die Nutzer offenbar wenig auseinandersetzen. Die meisten würden mobil erhobene Daten sofort mit ihrem Arzt teilen, viele diese auch an ihre Krankenkassen weiterleiten, zeigt eine Umfrage.

„Ich denke, Apps und andere neue Technologien können viele Vorteile für die Gesundheit der Menschen bieten. Manchmal habe ich aber das Gefühl, dass die Apps als All-Heilmittel dargestellt werden, die Technikgläubigkeit lenkt von den eigentlichen, sehr komplexen Problemen ab“, sagt Wild. Sie hat bereits über Bonussysteme und digitale Anreizinstrumente der Krankenkassen geforscht. Manche Studien zeigen immerhin kurzfristige Effekte. Die Teilnehmer solcher Programme ernähren sich besser und machen mehr Sport. Nach einigen Jahren kehrt sich das jedoch mitunter wieder um. „Manche leben nach der Intervention sogar ungesünder als davor. Bislang gibt es keine ausreichende medizinische Evidenz dafür, dass diese Anreizprogramme dauerhaft zu gesünderem Verhalten führen.“

Die LMU-Forscherin plädiert für einen möglichst offenen ethischen Diskurs über das Präventionsdenken und die Veränderungen, die damit für das Gesundheitssystem einhergehen. Dazu gehöre es, die positiven Wirkungen zu erkennen und zu fördern. Dazu gehören aber auch grundlegendere Fragen wie etwa nach dem Wert einer Solidargemeinschaft. Im Grunde, sagt Verina Wild, gehe es darum, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Auch die Folgen der Digitalisierung, die das Gesundheitssystem zunehmend verändert, müssten stärker debattiert werden. „Die App-Ethik ist bislang eher im medizinischen Denken verhaftet und auf das Individuum bezogen. Wir eignen uns diese Anwendungen an wie ein Konsumgut, haben aber eigentlich noch keine Vorstellung davon, was wir damit beginnen und was das mit unserer Gesellschaft macht. Das betrifft gerade auch die Datensammlung und die Algorithmen im Hintergrund, die große Informationsmengen auswerten können.“ Verina Wild ist sicher, dass die Apps nur der Anfang sind, da künstliche Intelligenz und ihre Anwendungen künftig auf vielfältige Weise in den Alltag eingreifen werden. „Das wird unsere Gesundheit und unser Verhalten weit mehr beeinflussen als eine App, die unsere Schritte zählt.“

PD Dr. med. Verina Wild ist seit 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Medizinischen Fakultät der LMU. Seit April 2018 leitet sie die von ihr eingeworbene BMBF-Forschungsgruppe „META - mHealth: Ethische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte im technologischen Zeitalter“. Für ihre Arbeit wurde sie 2017 an der LMU mit dem Prinzessin Therese von Bayern Preis ausgezeichnet.

„Am Wendepunkt“: In seiner neuen Ausgabe fächert das LMU-Forschungsmagazin Einsichten Dimensionen des Begriffes auf: Der Volkswirtschaftler Andreas Peichl verfolgt, wie sich das Verhältnis von Arm und Reich entwickelt. Dahinter steht auch die Frage, wieviel Ungleichheit eine Gesellschaft verträgt. Der Literaturwissenschaftler Martin von Koppenfels zeichnet die wechselvolle Geschichte eines Genres nach: des Abenteuerromans, der nicht zuletzt von den Wendungen der darin erzählten Geschichte lebt. Der Historiker Arndt Brendecke analysiert am Beispiel Spaniens, wie die Länder Europas an der Wende zur Neuzeit von Welt Besitz ergriffen. Die Physikerin Katia Parodi, die Mediziner Thomas Grünewald und Sebastian Kobold, die Biologen Wolfgang Enard und Heinrich Leonhardt – sie alle suchen nach Wegen, die Krankheit Krebs zu beherrschen, damit sie nicht den Point of no Return erreicht. Der Evolutionsbiologe Jochen Wolf untersucht, wie neue Arten entstehen. Die Wissenschaftshistorikerin Kärin Nickelsen, der Humangenomiker Wolfgang Enard und der Genetiker Martin Parniske diskutieren, was die technische Revolution in der Genomforschung für Wissenschaft und Gesellschaft bedeuten.

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