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So gleich und doch verschieden

01.08.2018

Alle Scheibentiere sehen weltweit völlig identisch aus – trotzdem sind sie genetisch so divers, dass es LMU Wissenschaftlern nun nur durch vergleichende Genomik gelungen ist, unterschiedliche Gattungen zu definieren – ein Novum in der Tiersystematik.

Hoilungia hongkongensis. Foto: Hans-Jürgen Osigus, Stiftung Tierärztliche Hochschule HannoverScheibentiere (Placozoa) hatten bislang eine exklusive Stellung im Tierreich. Sie galten als einziger Tierstamm, zu dem nur eine einzige Tierart gehört: Trichoplax adhaerens. Wissenschaftler um Professor Gert Wörheide vom Department für Geo- und Umweltwissenschaften und dem GeoBio-Center der LMU haben nun nachgewiesen, dass in Hongkong gesammelte Scheibentiere sich von T. adhaerens genetisch stark unterscheiden. Die Wissenschaftler sequenzierten dessen Genom und fanden durch vergleichende Genomik so große Unterschiede zu T. adhaerens, dass diese Tiere nicht nur eine neue Art darstellen, sondern sogar eine neue Gattung bilden – und das, obwohl sich beide Arten morphologisch in nichts unterscheiden. Die Definition einer neuen Spezies rein durch vergleichende Genomik ist ein Novum in der Systematik von Tieren. Über ihre Ergebnisse berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin PLOS Biology.

Scheibentiere sind die einfachsten vielzelligen Tiere und besitzen weder Muskel- noch Nervenzellen. Sie sind nur wenige Millimeter groß und haben einen scheibenartig abgeflachten Körper. Die Tiere kommen in allen tropischen und subtropischen Meeren vor. Weltweit sehen sie sowohl äußerlich als auch von der inneren Struktur her völlig identisch aus. Da die gängigen Methoden zur Beschreibung von Tierarten vor allem auf der Charakterisierung des Körperbaus beruhen, wurden alle gesammelten Scheibentiere bisher der Art T. adhaerens zugewiesen, die im Jahr 1883 erstmals beschrieben wurde. „Genetische Daten aufgrund kurzer DNA-Signatur-Sequenzen ließen aber bereits vermuten, dass es eine große Diversität innerhalb der Placozoen gibt. Dies legte die Vermutung nahe, dass die Placozoa in Wirklichkeit zahlreiche unterschiedliche Arten aufweisen“, sagt Wörheide.

Deshalb haben die Wissenschaftler das komplette Genom einer Scheibentier-Linie aus Hongkong sequenziert. Deren DNA-Signatur-Sequenzen deuteten darauf hin, dass sie verwandtschaftlich am weitesten von T. adhaerens entfernt ist, dessen Genom bereits im Jahr 2008 veröffentlicht wurde. „Basierend auf einer vergleichenden Genomanalyse haben wir dann eine neue Methode zur Beschreibung einer neuen Tierart entwickelt, die ausschließlich auf Genom-Daten beruht“, sagt Michael Eitel, der Erstautor der Studie. „Taxogenomics“ nennen die Forscher diesen Ansatz, bei dem unter anderem strukturelle Unterschiede der Chromosomen, die Anzahl der Gene, sowie Sequenzunterschiede ausgesuchter Proteine in die Analyse einbezogen werden.

Durch diese Methode wurden so große genetische Unterschiede ersichtlich, dass die Scheibentiere aus Hongkong nach Ansicht der Wissenschaftler nicht nur zu einer neuen Art gehören, sondern sogar Vertreter einer neuen Gattung sind, also einer höheren systematischen Kategorie. „Dies ist ein ganz neuer Ansatz. Niemals zuvor wurde eine neue Gattung ausschließlich auf der Basis von Genom-Daten beschrieben“, sagt Wörheide. Die neue Art wurde von den Wissenschaftlern Hoilungia hongkongensis getauft, was übersetzt „Hongkong Seedrache“ bedeutet – eine Anspielung darauf, dass Scheibentiere ihre Körperform verändern können wie der Drachenkönig der chinesischen Mythologie.

Die Wissenschaftler vermuten, dass Scheibentiere einen evolutiven Sonderweg eingeschlagen haben, bei dem sich die Artbildung ausschließlich in genetischen Unterschieden manifestiert, ohne dass es zu charakteristischen Unterschieden im Körperbau kommt. „Wir haben Hinweise gefunden, die auf eine stille, negative Selektion hindeuten: Neue morphologische Entwicklungen wurden möglicherweise unterdrückt. Wir stehen erst am Anfang der Forschung darüber, wie dieser Sonderweg der Placozoa zu erklären ist“, sagt Eitel.

Die Taxogenomics-Methode könnte auch für die detaillierte Untersuchung von Artbildungsprozessen bei anderen Tierarten eingesetzt werden. Insbesondere bei der Gruppe mikroskopisch kleiner Tiere wie Nematoden oder Milben, deren Arten optisch nur schwer voneinander abgegrenzt werden können, könnte die Methode nach Ansicht der Wissenschaftler hilfreich sein.PLOS Biology 2018

Mehr zur Forschung von Professor Gert Wörheide: Evolution: Am Anfang steht der Schwamm Stammesgeschichte: Frühe Explosion der Artbildung Korallenmeer: Einzigartige Vielfalt bis in die Tiefsee EU-Doktorandennetzwerk: “Comparative genomics of non-model invertebrates” (“IGNITE”)

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